In Nigeria eskalieren die Demonstrationen gegen die gewalttätige Polizeieinheit SARS. Eine Ausgangssperre der Regierung führt zu einer weiteren Verschärfung und fordert zahlreiche Tote. Was hinter den Protesten steckt.

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Polizeigewalt ist in Nigeria an der Tagesordnung. Nun aber setzen sich die Bewohner des westafrikanischen Staates zur Wehr. Vor allem junge Menschen wollen sich nicht mehr mit dem staatlich geduldeten Terror abfinden.

Ein Video bringt die Lage zum Kippen. In dem am 3. Oktober veröffentlichten Clip sieht man, wie Polizisten der Spezialeinheit SARS einen jungen Nigerianer erschießen. Daraufhin fahren die Männer in einem Auto weg – angeblich das Fahrzeug des Opfers.

Die "Special Anti-Robbery Squad" (SARS) steht bereits lange in der Kritik. Sie wurde 1992 gegründet, um gegen Bandenkriminalität vorzugehen. Doch seither fällt die Gruppe vor allem durch brutales Vorgehen gegen Zivilisten auf.

Zum Repertoire der SARS gehören Folter, Entführungen, Überfälle, Vergewaltigungen und Hinrichtungen genauso wie illegaler Organhandel. Laut Amnesty International entführt die Einheit regelmäßig junge Nigerianer, um so Geld von deren Verwandten zu erpressen.

EndSARS – Proteste gegen Polizeigewalt erreichen ihren Höhepunkt

Besonders ins Visier nehmen die SARS-Polizisten junge Männer, die auffällig gekleidet sind und moderne Handys oder Laptops besitzen. Die Geräte werden dann unter fadenscheinigen Gründen beschlagnahmt. Bezeichnend ist ein Handy-Video eines Twitter-Users, in dem ein SARS-Offizier droht: "Ich kann dich hier ganz ohne Grund töten."

Forderungen, die SARS aufzulösen, gab es immer wieder. Bereits 2017 legten Aktivisten eine Petition zur Abschaffung der Truppe vor – unterschrieben von 10.195 Personen. Damals tauchte auch der Hashtag "EndSARS" zum ersten Mal auf.

Mit den jüngsten Ereignissen erreicht der Protest dann die Straße. Seit dem 8. Oktober ziehen Tausende Menschen durch die Straßen der Großstädte des Landes – der Hauptstadt Abuja, Oshogbo, Benin-Stadt und natürlich dem Zentrum der Demonstrationen, Lagos.

Die nigerianische Polizei versucht, entschlossen dagegenzuhalten, setzt Tränengas, und Wasserwerfer ein und schießt auch auf friedliche, unbewaffnete Demonstranten. Was weitere Todesopfer fordert, darunter der junge Student Jimoh Isiaq oder der 20 Jahre alte Musiker Chibuike Ana.

SARS wird aufgelöst – doch Nigeria kommt nicht zur Ruhe

Doch die Proteste sind nun nicht mehr aufzuhalten. Und die Demonstranten stellen konkrete Forderungen:

  • Sofortige Freilassung aller verhafteten Demonstranten
  • Entschädigung für die Opfer der Polizeigewalt
  • Einrichtung einer unabhängigen Kommission, die polizeiliche Übergriffe untersucht und verfolgt
  • Psychologische Untersuchung und Umschulung der SARS-Mitarbeiter
  • Angemessene Entlohnung für nigerianische Polizisten

Unterzeichnet ist die Liste mit "A Nigerian Youth".

Dann geschieht das Unglaubliche: Die Regierung löst die umstrittene SARS-Einheit auf. Trotzdem bleibt die Skepsis und die Demonstrationen werden fortgesetzt.

Osai Ojigho, Direktor von Amnesty International Nigeria, erklärt auf der Website der Organisation, warum: "Die Nigerianer stehen dem Versprechen der Behörden, die Gräueltaten der Polizei zu beenden, skeptisch gegenüber, da sich die Behauptungen der Vergangenheit, SARS zu reformieren, als leere Worte herausgestellt haben."

Ausgangssperre in Nigeria führt zu mehr Gewalt

Am 20. Oktober kommt es zu einem neuen Höhepunkt der Gewalt. Die Regierung verhängt eine landesweite Ausgangssperre für 24 Stunden. Doch die Demonstranten halten sich nicht an das Gebot, entfernen Kameras und schalten Straßenlaternen aus.

Einige Stunden später fährt das Militär auf und die Soldaten eröffnen das Feuer. Das Ergebnis ist grauenhaft: Laut Amnesty International werden mindestens 12 Menschen getötet, Dutzende Personen sollen verletzt worden sein. Andere Quellen berichten gar von mehr Opfern. Insgesamt seien bei den blutigen Protesten in den vergangenen Tagen 69 Menschen gestorben, teilte Nigerias Präsident Muhammadu Buhari am Freitagabend mit.

Inzwischen solidarisieren sich Menschen weltweit mit der Bewegung in Nigeria. In Kanada, New York und London versammelten sich Angehörige nigerianischer Bevölkerungsgruppen. Die nigerianische Schriftstellerin Chibundu Onuzo ging in London ebenfalls auf die Straße. "Wir wollen ein neues Nigeria, das Generationen Bestand hat", schreibt Onuzo im "Guardian".

Zahlreiche Prominente unterstützen das Anliegen. Darunter Künstler wie Cardi B, Rihanna, Diddy, Drake und Kanye West oder Sport-Stars wie Lewis Hamilton, Marcus Rashford und Mesut Özil.

Guterres und Biden verurteilen die Gewalt in Nigeria

Auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres verurteilt in einer Erklärung die Gewalt und verlangt ein Ende der Polizei-Brutalität. US-Präsidentschaftskandidat Joe Biden fordert den nigerianischen Präsidenten Muhammadu Buhari auf, das "gewaltsame Vorgehen gegen Demonstranten" einzustellen.

Inwieweit die Proteste gegen die Gewalt sich zu Protesten gegen eben jenen Präsidenten entwickeln könnten – das ist die entscheidende Frage für die nächsten Wochen. Die Menschen sehnen sich vor allem nach Frieden.

Osai Ojigho von Amnesty International bringt es auf den Punkt: "Die Nigerianer, die auf die Straße gehen, haben genug von den gesetzlosen Aktivitäten von SARS. Was sie verdienen, sind konkrete Reformen, die die Rechte der Menschen schützen."

Verwendete Quellen:

  • Amnesty International: Nigeria: Authorities must initiate genuine reform of the police
  • United Nations: UN chief calls for end to reported police brutality in Nigeria
  • Quartz Africa: Young Nigerians are leading protests yet again to disband a rogue police unit
  • The Guardian Online: Black lives matter everywhere. That's why the world should support the #EndSARS movement
  • SZ.de: Protest gegen eine tödliche Polizeitruppe
  • Twitteraccount von ChokolateBoi
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