Vor zwei Jahren wurde ein Abschlussbericht zum Missbrauchsskandal der Regensburger Domspatzen vorgelegt. Nun gibt es zwei neue Studien, die den Fall um die Chorknaben historisch und sozialwissenschaftlich aufarbeiten.
Undurchsichtige Strukturen, unklare Verantwortlichkeiten und ein Versagen kirchlicher wie staatlicher Stellen haben die früheren Fälle von Missbrauch und Gewalt bei den Regensburger Domspatzen neuen Erkenntnissen zufolge begünstigt.
Zu diesem Ergebnis kommen zwei am Montag vorgestellte Studien im Auftrag des Bistums Regensburg, die die Vorgänge zwischen 1945 und 1995 historisch und sozialwissenschaftlich untersucht haben. Sie zeigen einmal mehr das erschütternde Ausmaß des Missbrauchsskandals, von dem so lange niemand gewusst haben will.
Der berühmte Knabenchor, seine Schulen und Internate seien ein abgeschottetes soziales System gewesen, in dem sich eigene moralische Maßstäbe herausgebildet hätten, sagte Martin Rettenberger von der Kriminologischen Zentralstelle (Krimz) in Wiesbaden. Von außen sei eigentlich keine Korrektur und Kontrolle möglich gewesen.
Dass bei den Regensburger Domspatzen jahrzehntelang besorgniserregende Zustände herrschten, ist spätestens seit dem Jahr 2010 bekannt. Junge Sänger - vom Drittklässler bis zum Abiturienten - wurden demnach geprügelt, gedemütigt und einige sogar sexuell missbraucht.
Viele tragen die Verantwortung
In dem Krimz-Bericht hieß es, es habe sich um eine Institution gehandelt, die alle Lebensbereiche der Schüler bis in intime Bereiche gesteuert und überwacht habe. Der Erfolg des Chores sei über alles gestellt worden.
Kontrollieren ließ sich das System aus Chören, Schulen und Internaten demzufolge kaum. Es habe sich um ein Wirrwarr an Verantwortlichkeiten gehandelt. Kirchliche Stellen, staatliche Aufsichtsbehörden und die Eltern - keiner schlug Alarm. "Es haben viele eine Verantwortung gehabt und keiner ist ihr gerecht geworden", sagt Rettenberger.
Dabei hätte es viele Gründe dafür gegeben. "Gewalt und Missbrauch bildeten einen Bestandteil der alltäglichen Erziehungspraxis", befanden Historiker der Universität Regensburg in der zweiten Studie.
Einem langjährigen Direktor der Vorschule bescheinigten sie Sadismus und Allmachtsfantasien.
Der frühere Chorleiter Georg Ratzinger, Bruder des emeritierten Papstes Benedikt XVI., neigte demnach zu Jähzorn und habe mit überzogener Strenge Druck auf die Sänger ausgeübt, wurde aber jenseits der Chorproben als persönlich wohlwollend und väterlich beschrieben.
Pädagogische Kenntnisse und Interessen besaß er nach Ansicht der Forscher wie so viele andere Verantwortliche nicht. Sein Interesse galt dem Chor, offenbar deshalb mischte er sich nicht ein. Dass er von dem Prügelregime nichts mitbekam, halten die Historiker jedoch für ausgeschlossen.
Der Staat hat versagt
Auch der Staat hat den Studien zufolge versagt. Beamte hätten interne Probleme mitbekommen. "Jedoch blieb all das recht situativ-punktuell, nie wurde mit letzter Konsequenz eingegriffen", hieß es.
Teilweise habe man die strengen Erziehungsvorstellungen einschließlich körperlicher Strafen sogar geteilt. Diese hätten allerdings vor allem in der Vorschule das damals tolerierte Maß überschritten, so waren schwere Körperverletzungen oder sexuelle Vergehen auch in der damaligen Zeit strafbar.
"Hinzu kam das hohe Prestige der Domspatzen, die Wertschätzung der Geistlichen, deren Autorität man kaum bezweifelte", erläutert der Historiker Bernhard Löffler.
Sogar manche Eltern hätten entsprechend gedacht - und den Schilderungen ihrer Söhne nicht unbedingt geglaubt. Allerdings hätten viele Kinder die Schule abgebrochen, zeitweise mehr als 70 Prozent eines Jahrgangs.
Fokus wieder auf der Musik
Wenn doch mal was ein Vergehen öffentlich wurde, versuchte man laut den Wissenschaftlern, alles im Stillen zu regeln.
"So lange es ging, wurde beschwichtigt und weggesehen. Wenn überhaupt geredet wurde, dann immer mit viel Verständnis für den Mitpriester oder Mitpräfekten", sagte Löffler. "In eigentlich allen Gewaltfällen, die ans Licht kamen, wurde immer erst gehandelt, wenn ein öffentlicher Skandal drohte."
Der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer sagte, er hoffe, dass die Erkenntnisse helfen, Ähnliches in Zukunft zu verhindern. Rund 3,78 Millionen Euro hat das Bistum an Opfer gezahlt.
Jetzt sei Prävention das Wichtigste, sagte Voderholzer, der den Knabenchor mit Schule und Internat auf einem guten Weg sieht. Und Peter Schmitt, der für die Opferseite im Aufarbeitungsgremium sitzt, befand: "Jetzt ist alles getan, was man tun konnte."
Viele wünschten sich, dass jetzt Ruhe einkehre, um das zu genießen, wofür die Domspatzen seit Jahrzehnten stünden - "ausgezeichnete Musik". (awa/dpa)
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