Die Erdbeben in Syrien und der Türkei forderten zahlreiche Opfer. Ein zuverlässiges Frühwarnsystem für Naturkatastrophen gibt es noch nicht – trotz zahlreicher Forschungsbemühungen. Könnten Tiere der Schlüssel sein?
In Syrien und in der Türkei wüteten zwei starke Erdbeben bis zur Stärke 8 auf der Richterskala. Die Katastrophe hat schon jetzt weit zehntausende menschliche Todesopfer gefordert, die UN fürchtet, dass die Zahl der Toten noch auf 50.000 steigt.
Dass die türkisch-syrische Grenzregion ein Risikogebiet für Erdbeben ist, war bekannt. Seit Jahren rechnen Seismologen mit einem "Superbeben” in Istanbul. Trotz zahlreicher Forschungsbemühungen ist es bis heute allerdings nicht möglich, ein Beben zuverlässig vorherzusagen. Wissenschaftler arbeiten an komplexen Frühwarnsystemen, die eine rechtzeitige Evakuierung der Gebiete möglich machen. Die Messung seismischer Wellen, Gravitationssignale und elektromagnetische Signale sollen als Vorzeichen für Beben helfen.
Forscher sammelten Bewegungsdaten von Kühen und Schafen
Einen anderen Ansatz verfolgt das Projekt Icarus. Das Forschungsteam vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie will mithilfe der Beobachtung von Tieren aus dem Weltraum herausfinden, ob Tiere als Frühwarnsysteme für Naturkatastrophen dienen können. Schon länger hält sich der Mythos, dass Tiere einen "siebten Sinn” für Erdbeben, Tsunamis und andere Naturphänomene haben und im Vorfeld dieser Ereignisse abnormales Verhalten zeigen.
Nervöse Vögel, flüchtende Kröten oder hyperaktive Hunde, Kühe und Schafe – immer wieder gibt es derartige Beobachtungen in Erdbebengebieten. Bisher gelang es aber noch keinem Forschungsteam, Erdbeben durch systematische Tierbeobachtung vorherzusagen. Das Icarus-Team um Studienleiter Martin Wikelski will genau das erreichen und führte dazu wissenschaftliche Untersuchungen durch. Die Wissenschaftler zeichneten die Bewegungen von Kühen, Schafen und Hunden in einer Erdbebenregion in Norditalien mithilfe von Beschleunigungssensoren am Halsband auf. Über mehrere Monate lief die Beobachtung.
Effekt ist nur im Kollektiv zu erkennen
Es stellte sich heraus, dass die Tiere sich auffällig verhielten, je näher sie dem Epizentrum eines sich anbahnenden Bebens waren. Das interpretierte das Forscherteam als erstes Indiz, dass die Bewegungsprofile verschiedener Tierarten in verschiedenen Regionen zur Beben-Vorhersage genutzt werden könnten. Dieser Effekt war jedoch nur so deutlich, wenn die Forscher alle Tiere zusammen betrachteten.
"Im Kollektiv scheinen die Tiere also Fähigkeiten zu zeigen, die auf individueller Ebene nicht so leicht zu erkennen sind”, wird Studienleiter Wikelski von der "Neuen Zürcher Zeitung” (NZZ) zitiert. "Mit Biologging können wir die Tiere vor, während und nach Naturkatastrophen in Echtzeit beobachten”, sagt der Direktor am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie.
Doch wie können Tiere bevorstehende Erdbeben überhaupt spüren? Dazu gibt es verschiedene Theorien. Eine davon ist, dass Tiere mit ihrem Fell die Ionisierungen der Luft wahrnehmen, die durch den großen Gesteinsdruck in Erdbebenzonen auftreten. Möglich ist auch, dass Tiere Gase riechen können, die vor einem Beben aus Quarzkristallen freigesetzt werden.
Wikelski glaubt an ein "Internet der Tiere”, das in Zukunft ähnlich wie in der Drogenfahndung oder bei der Suche nach Erdbebenopfern systematisch eingesetzt werden kann. "Eines Tages werden wir hoffentlich Reh oder Fuchs vertrauen, wie wir heute unseren Hunden beim Aufspüren von Drogen oder Diabetes vertrauen.”
Projekt wegen Ukraine-Krieg ins Stocken geraten
Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Denn das Projekt Icarus ist zuletzt ins Stocken geraten. Die Daten werden auf der Raumstation ISS per Antenne gesammelt und kamen bis zum März 2022 aus Moskau. Als Russland den Krieg in der Ukraine begann, stellte die russische Raumfahrtbehörde die Zusammenarbeit ein.
"Das war ein Schock. Im Nachhinein sind wir froh, dass wir jetzt eine unabhängige Lösung finden können”, sagt Wikelski. Icarus sucht nun einen Investor für einen eigenen Satelliten, die Ausschreibung läuft. Es könne aber noch eineinhalb Jahren dauern, bis der Satellit in Betrieb sei. © Deine Tierwelt
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