Millionen von Kindern in Deutschland leben mit einem psychisch kranken Elternteil. Häufig drehen sich dann die Rollen um, die Kinder kümmern sich um Mutter oder Vater statt umgekehrt.

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"Man könnte wirklich denken, ich bin hier das Kind", sagt Fabian. "Schon ok", antwortet sein Sohn, immer wieder. Auch wenn der Vater abends in die geputzte Wohnung kommt, der Tisch gedeckt, die Wäsche aufgehängt ist. "Ich wollte wirklich einkaufen und auch aufräumen“, versucht sich Fabian zu erklären. "Ich weiß, Papa, ich weiß alles. Ist schon ok", erwidert der Zwölfjährige.

Es sind Dialoge aus dem ZDF-Spielfilm "Das Versprechen" (Erstausstrahlung Montag, 26.4., 20:15 Uhr und in der Mediathek verfügbar). Die Hauptfigur ist Bendix, der Sohn von Fabian, einem alleinerziehenden Witwer, der unter schweren Depressionen leidet. Der Film rückt ein drängendes, aber verdrängtes Thema in den Fokus: Kinder psychisch kranker Eltern.

Drehbuch-Dialoge aus dem Praxis-Alltag

Die Wortwechsel seien aus dem Leben gegriffen, bestätigt Michael Schulte-Markwort im Gespräch mit unserer Redaktion. Der Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie steuerte zum Drehbuch Zitate aus seinem realen Praxisalltag bei: "Die Szenen des Films sind komplett authentisch. Dass Kinder in Krisensituationen so kompetent und fürsorglich die Verantwortung übernehmen, ist kein seltenes Phänomen."

So viele Kinder sind betroffen

Und das schon allein, weil psychische Erkrankungen alles andere als ein Randproblem unserer Gesellschaft sind, wie Zahlen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie zeigen:

  • In Deutschland ist jedes Jahr mehr als jeder vierte Erwachsene von einer psychischen Erkrankung betroffen (27,8 Prozent).
  • Am häufigsten sind Angststörungen (15,4 Prozent), affektive Störungen wie Depression (9,8 Prozent) und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum (5,7 Prozent).

27,8 Prozent der Erwachsenen entsprechen 17,8 Millionen Menschen in Deutschland. Dann ist da noch die große Zahl derer, die mitleiden, etwa weil der Partner oder wie in Bendix‘ Fall ein Elternteil erkrankt ist. "Etwa 30 Prozent der Kinder in Deutschland leben zumindest vorübergehend mit einem psychisch kranken Elternteil zusammen", beziffert Schulte-Markwort.

Depressionen bei den Eltern und die Folgen fürs Kind

Ist einer der Eltern depressiv, haben Kinder ein erhöhtes Risiko, ebenfalls an Depressionen zu erkranken. Experten vermuten, dass depressive Neigungen vererbbar sind. Auch aber erlernten Kinder depressive Verhaltensmuster als "Möglichkeit", mit Problemen umzugehen und würden sie vielleicht selbst unbewusst praktizieren, sagte kürzlich Andreas Hagemann, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, der dpa. "Dazu kommt, dass depressive Eltern durch die krankheitsbedingten Einschränkungen oft nicht in der Lage sind, ihren Kindern auf der emotionalen Ebene das an Fähigkeiten - etwa Resilienz und Selbstwert – mitzugeben, was sie gebraucht hätten", erklärte Hagemann weiter.

Parentifizierung: Wenn das Kind in die Rolle der Eltern schlüpft

Bei Bendix tritt ein geradezu typisches Phänomen ein: Er übernimmt die Rolle des Kümmerers – obwohl er selbst noch ein Kind ist. Der Begriff aus der Familientherapie dafür ist "Parentifizierung", zusammengesetzt aus den lateinischen Wörtern "parentes" (Eltern) und "facere" (machen). Die sozialen Rollen innerhalb der Familie drehen sich um, das Kind übernimmt immer mehr Verantwortung.

"Dieses Phänomen kann auch entstehen, wenn Eltern aus anderen Gründen überfordert sind", bemerkt Schulte-Markwort. "Die Ursache muss keine psychische Erkrankung, sondern kann Beispielsweise auch die Trennung vom Partner sein. In der Praxis haben wir jedenfalls viele Kinder wie Bendix in Behandlung." Der Arzt hält den Film deshalb auch für so wichtig: "Es ist geradezu ein Lehrfilm."

"Kinder halten mehr aus, als wir ihnen zutrauen"

Nicht nur werde hier auf das wichtige Thema psychischer Erkrankungen und ihre Bedeutung für Familien aufmerksam gemacht: "Der Film zeigt auch die Stärke von Kindern." Schulte-Markwort verweist auf die zweite Hauptfigur und damit einen weiteren Handlungsstrang des Filmes: Jule, 16 Jahre alt, leidet an der Impulskontrollstörung DMDD (Disruptive Mood Dysregulation Disorder). Dennoch schafft sie es, für Bendix zur Helferin zu werden. An ihrer Figur zeigt sich, wie heilsam es sein kann, Verantwortung zu übernehmen.

"In einer Krisensituation ist ein Schulterschluss etwas Gutes. Das gilt zunächst auch für die Fürsorge, die Bendix aufbringt", findet Schulte-Markwort. Der Junge raffe auf bemerkenswerte Weise alle seine Ressourcen zusammen, um für seinen Papa zu sorgen. "Kinder halten mehr aus und sind kompetenter, als wir ihnen manchmal zutrauen", sagt der Facharzt. Bendix erinnert den Vater zum Beispiel daran, rechtzeitig in die Arbeit zu gehen und klebt ihm Notizen auf die Brotzeit - damit er nicht vergisst, sie zu essen.

Alarmsignale: Wenn die Verantwortung zu viel wird

Die Last wird aber zu groß, es kommt zur Überlastung. Aus einem positiven Gefühl, Verantwortung zu übernehmen, wird Überforderung. "Man merkt es Bendix an, er ist sehr ernst und zurückgezogen, offenbar hat er auch keine Freunde", bemerkt Schulte-Markwort.

Die Dramaturgie im Film – der Junge überfällt eine Bank, was gleich in der ersten Szene vorweggenommen wird – entspreche nicht einem typischen Verlauf. Klar sei: "Ein Kind wie Bendix würden wir behandeln. Hier drohen Überforderung, Erschöpfung - und man sieht Anzeichen einer Depression."

Folgende Alarmsignale könnten auf depressive Erkrankungen bei Kindern hindeuten:

  • Leistungseinbruch
  • Rückzug, etwa von Freunden
  • Wortkargheit
  • Müdigkeit, Kraftlosigkeit
  • Schwindendes Interesse an Hobbys
  • Wenig Freude an Dingen
  • Das Kind malt keine bunten Bilder, sondern in düsteren Farben

Kinder müssen Kinder sein

Neben Depressionen seien auch langfristige Beziehungsstörungen mögliche Folgen einer Parentifizierung, fügt Schulte-Markwort hinzu: "Das hängt aber stark davon ab, wie alt das Kind ist und ob es über ein gutes Netzwerk verfügt oder nicht: ältere Geschwister, die Patentante oder generell die Großfamilie können vieles auffangen und ausgleichen."

Sätze wie "Schön tapfer sein, schließlich bist du jetzt hier der Mann im Haus!", wie sie manchmal gegenüber Jungen nach Trennungen von Eltern fielen, gehörten aus kinderpsychiatrischer Sicht aber verboten. "Ein Kind ist kein Mann und schon gar nicht der Vater", warnt Schulte-Markwort, "Kinder müssen Kinder sein können."

Woran man erkennt, dass einem Kind alles zu viel wird - dafür hat er einen einfachen Rat: "Am besten machen Sie immer das Kind zum Experten. Es wird antworten, wenn Sie es fragen: Wie geht es dir? Wo brauchst du Unterstützung? So zeigen Sie dem Kind auch Respekt und Wertschätzung."

Behandlung für Eltern: Hilfe lässt sich organisieren

Damit die Krise nicht zum Dauerzustand wird, müssten sich psychisch erkrankte Eltern unbedingt in Behandlung begeben, fügt Michael Krebs hinzu. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie fungierte ebenfalls als fachlicher Berater bei "Das Versprechen" und sieht im Film ein gewaltiges Dilemma sehr gut wiedergegeben: "Nicht den Absprung zu schaffen, sich Hilfe zu holen. Es erscheint vielen psychisch Erkrankten unmöglich, den Familienalltag zu durchbrechen und ihn so zu organisieren, dass sie sich um ihre Genesung kümmern können."

Der Film räumt diese Sorge auch nur bedingt aus, weshalb Krebs einen Hinweis für wichtig hält: "Ein Klinikaufenthalt ist nur sehr selten notwendig." In den allermeisten Fällen könnten Betroffene ambulant durch Psychiater behandelt werden, in schweren Fällen auch mithilfe von Pflegekräften, die zu den Patienten nach Hause kommen. Als erste Anlaufstelle nennt er den Hausarzt, der dann weitere Maßnahmen und Überweisungen in die Wege leiten könnte. Auch ein Anruf bei einer Beratungshotline sei ein möglicher erster Schritt: "Überhaupt tätig zu werden, darum geht es. Es kann nichts Schlimmes passieren! Im Gegenteil."

Der Fall von Fabian würde in der Realität etwa so ablaufen: "Wir würden ihn vier bis sechs Wochen krankschreiben und ihm Psychotherapie mit begleitender Medikamenteneinnahme verschreiben. Vermutlich würde er noch ein bis zwei Jahre in regelmäßigen Abständen zum Psychiater gehen und dabei ein ganz normales Leben führen." Das wäre auch für das Kind das Beste: "Es ist wichtig zu wissen: Man kann es immer hinbekommen. Wer Hilfe zulässt, hat eine gute Prognose."

Informationen und Hilfe für Betroffene und Angehörige

  • Wissen, Selbsttest und Adressen rund um das Thema Depression bei der Deutschen Depressionshilfe unter www.deutsche-depressionshilfe.de
  • Telefon-Seelsorge unter der Telefonnummer 08 00/ 11 10 - 111 (Deutschland), 142 (Österreich), 143 (Schweiz)
  • Deutschlandweites Info-Telefon Depression 0800 33 44 5 33 (kostenfrei)
  • Beratung und Austausch für Angehörige beim Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen unter www.bapk.de

Info zum Film

  • "Das Versprechen" ist bis 18. April 2022 in der Mediathek des ZDF verfügbar (Hauptdarsteller: Mika Tritto (Bendix), Ella Morgen (Jule), Andreas Döhler (Fabian). Drehbuch: Beate Langmaack; Regie: Till Endemann).

Über die Experten

  • Prof. Dr. med. Michael Schulte-Markwort war seit 2010 ärztlicher Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und ist seit 2021 Ärztlicher Direktor der Oberberg Fachklinik Marzipanfabrik in Hamburg. Er ist zudem Supervisor der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis Paidion in Hamburg und Autor zahlreicher Publikationen etwa zum Thema Erschöpfungsdepression bei Kindern.
  • Dr. Michael Krebs ist niedergelassener Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Berlin-Lichterfelde und Ärztlicher Geschäftsführer des Arztnetzes Psychiatrie Initiative Berlin Brandenburg (PIBB) GmbH. Zu seinen Schwerpunkten zählen schwere psychische Erkrankungen bei Erwachsenen.

Verwendete Quellen

  • Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie
  • dpa: "Glas halbleer: Erziehung kann negative Denkmuster fördern", Tom Nebe, 6.4.2021
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