Eine Studie unter Schülern erschreckt Eltern, Lehrer und Politiker. Denn mehr als die Hälfte der befragten Kinder und Jugendlichen gab an, in der Schule Hänseleien, Ausgrenzung oder körperliche Gewalt ertragen zu müssen. Bundesfamilienministerin Franzika Giffey (SPD) nennt die Erkenntnisse "gravierend".
Die Mehrheit der Schüler in Deutschland hat einer Untersuchung zufolge Ausgrenzung, Hänseleien oder körperliche Gewalt bereits selbst erlebt. Und ein Viertel fühlt sich an der Schule nicht sicher.
Zu diesen Ergebnissen kommt eine am Mittwoch veröffentlichte repräsentative Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, für die bundesweit 3.448 Schüler zwischen acht und 14 Jahren befragt worden waren. "Die Politik ist hier gefordert, Kinder und Jugendliche besser zu schützen", mahnt Stiftungsvorstand Jörg Dräger.
"Auffällig" und "irritierend" aus Sicht der Autoren: Besonders hoch ist der Anteil der Übergriffe in den Grundschulen. Dort gaben knapp 30 Prozent der befragten Jungen und Mädchen an, im Vormonat von anderen Schülern gehänselt, auch ausgegrenzt und zudem "absichtlich gehauen" worden zu sein.
Zwei Drittel machen eine Negativerfahrung pro Monat
An Haupt-, Real-, Gesamt- und Sekundarschulen sagte jeder Fünfte, alle diese drei Übergriffsformen im Monat zuvor erlebt zu haben. Im Gymnasium war es jeder Zehnte.
Über alle Schulformen hinweg betrachtet, haben rund 65 Prozent der befragten Schüler im Monat mindestens eine einzelne derartige Negativerfahrung gemacht. Nehme man die Grundschüler heraus, komme man auf 60 Prozent, ergänzt eine Stiftungssprecherin auf Anfrage.
Gar nicht betroffen von Ausgrenzung und Gewalt waren nach eigener Aussage nur knapp 22 Prozent der Grundschüler - und 36 bis 43 Prozent der Befragten in weiterführenden Schulen. In der Erhebung richteten sich die Fragen nach solchen Erlebnissen auf die eigene Schule, "sie können aber auch auf dem Schulweg, bei Begegnungen außerhalb der Schule oder in den sozialen Medien vorkommen."
Zum Sicherheitsgefühl gibt je ein Viertel der Schüler an, sich in der Schule - und auch in der Nachbarschaft - nicht sicher zu fühlen. Umgekehrt stimmten der Aussage "Ich fühle mich in der Schule sicher", 29 Prozent der befragten Grundschüler "sehr" und 52 Prozent "100 Prozent" zu.
Ebenso fühlen sich 81 Prozent der Gymnasiasten sehr oder absolut sicher an ihrer Schule. Unter Realschülern sagen das 73 Prozent, an Haupt-, Gesamt- und Sekundarschulen aber nur 67 Prozent.
Autorin: "Ergebnisse nicht bagatellisieren"
Es bestehe dringender Handlungsbedarf, betont Studienautorin Sabine Andresen von der Uni Frankfurt. "Es ist ganz wichtig, diese Ergebnisse jetzt nicht abzutun und zu bagatellisieren - nach dem Motto: Gewalt an Schulen, das gab es doch immer schon. Nein, wir müssen den Ursachen auf den Grund gehen."
Für die meisten ist ihr Zuhause laut Studie ein sicherer Ort - für 8,6 Prozent gilt das aber nicht. "Es ist davon auszugehen, dass es auch nicht in allen Familien gewaltfrei zugeht", sagt Andresen der Deutschen Presse-Agentur.
Die Bildungsexpertin nennt es einen "irritierenden Befund", dass es gerade in den Grundschulen oft zu Ausgrenzung und Gewalterfahrungen komme. Denn 81 Prozent der Grundschüler sagten ja auch, dass sie sich sicher in der Schule fühlen. Das klingt widersprüchlich.
"Ein Erklärungsansatz ist, dass das Klassenlehrersystem mit einem täglich verlässlichen Ansprechpartner den jüngeren Schülern Sicherheit vermittelt." Womöglich habe "Hänseln und Hauen" für Acht- und Neunjährige auch "nicht so eine bedrohliche Konnotation" wie für ältere Schüler, heißt es in der Untersuchung "Children’s Worlds+".
Schlimme Folgen bin hin zum Selbstmord
Zwischen Unsicherheitsgefühl und eigener Erfahrung mit Ausgrenzung oder körperlicher Gewalt gebe es bei den Befragten der weiterführenden Schulen "Überschneidungen". "Dem müssen wir genauer nachgehen - auch der Frage, ob das über den erfragten Monat hinaus womöglich schon seit längerer Zeit läuft und warum viele Schüler nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen", sagt Andresen. Bei den Achtjährigen haben zwar 79 Prozent das Gefühl, dass ihre Lehrer sie ernstnehmen, bei den 14-Jährigen sind es aber nur 57 Prozent.
Andresen stellt klar: "Schulen sind ein zentraler Ort für Kinder und Jugendliche, wo sie sehr viel Zeit verbringen. Dort muss es sicher sein. Wenn die Bildungspolitik Schulen mit dem Problem allein lässt, dann lässt sie auch die Kinder allein."
Die Lehrergewerkschaft VBE forderte mehr multiprofessionelle Teams sowie Zeit und Ressourcen, um Gewaltprävention und Werteerziehung in der Schule zu intensivieren.
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) bezeichnete die Erkenntnisse der Studie als "gravierend". Gewalt und Mobbing könnten schlimme Folgen "von der Schulverweigerung bis hin zu Selbstmord" haben, sagte sie. Daher seien mehr als 200 speziell ausgebildete Sozialarbeiter in die Schulen geschickt worden.
Geldsorgen machen Kinder angreifbar
Der Begriff "Mobbing" wird in der Erhebung vermieden, weil es sich dabei definitionsgemäß um gezielte Attacken gegen eine Person über einen längeren Zeitraum handele. Auch einige Teilnehmer der Studie seien dem wohl ausgesetzt. Die Befragung sei aber eine Momentaufnahme, die sich der Mobbing-Problematik nur annähere; dazu sei eine eigene Untersuchung notwendig.
Die Bertelsmann-Studie zeigt: Schüler, die mitbekommen, dass das Geld Zuhause knapp ist, sind stärker von Ausgrenzung und Gewalt betroffen als Mitschüler, die sich nicht um die finanzielle Lage der Familien sorgen. Warum? "Da ist die Scham, dass man finanziell nicht mithalten kann. Und manche reagieren auf Verletzungen und Hänseleien auch mit Rückzug", schildert Anette Stein von der Stiftung.
Auch wenn die meisten Befragten ihre materielle Situation insgesamt positiv einschätzen, belaste es, wenn daheim Geldmangel oft Thema sei. Gegen Kinderarmut müsse mehr getan werden, verlangt Stein.
Viele Jugendliche bemängelten massiv, dass sie von Erwachsenen und Politik nicht ausreichend gehört und beteiligt würden, betont die Bildungsexpertin. Die Bewegung "Fridays for Future" könne da ermutigen. Klarer Appell der Autoren: "Politik vom Kind aus denken". (dpa/afp/mcf)
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