• Das Phänomen "Regretting Motherhood" beschreibt Mütter, die ihre Mutterschaft bereuen.
  • In Deutschland ist das immer noch ein Tabuthema.
  • Eine Expertin erklärt, warum es so weit kommt und warum man sich um die Kinder dieser Mütter trotzdem nicht sorgen muss.
Ein Interview

Für die meisten Frauen sind Kinder ein großes Geschenk. Doch es gibt Mütter, die anhaltend bereuen, Kinder bekommen zu haben und ihre Mutterrolle ablehnen. Darum geht es bei dem Phänomen "Regretting Motherhood". Eine 2015 veröffentlichte Studie der israelischen Soziologin Orna Donath machte das Thema in Deutschland populär. Doch warum sind manche Frauen so unglücklich mit ihrem Leben als Mutter? Welche Rolle spielt die Gesellschaft? Was macht diese Haltung der Mütter mit ihren Kindern? Darüber haben wir mit Christina Mundlos, Soziologin und Autorin, gesprochen.

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Das Phänomen "Regretting Motherhood" ist ein Thema, über das hierzulande noch nicht viel bekannt ist. Worum genau handelt es sich dabei, was bereuen die Mütter?

Christina Mundlos: Es geht dabei um Frauen, die ihre Mutterschaft bereuen und sagen: "Könnte ich die Zeit zurückdrehen, wäre ich niemals Mutter geworden". Gleichzeitig lieben sie ihre Kinder sehr. Das ist oft ein Missverständnis. Aber sie sind mit ihrer Rolle, die sie seit der Mutterschaft haben, wahnsinnig unglücklich. Letztendlich bereuen sie, sich für Kinder entschieden zu haben, genauso, wie man viele andere Dinge im Leben auch bereut, beispielsweise das falsche Auto oder den falschen Partner.

2015 hat die israelische Soziologin Orna Donath ihre Studie zum Thema veröffentlicht. Sie sagt selbst, ihr war klar, dass das Thema sehr polarisieren wird. Warum ist es so ein großes Tabuthema, vor allem in Deutschland?

Zum einen ist dieses Thema weltweit ein Tabuthema, weil wir so gut wie überall ein Patriarchat haben und Mütter diskriminiert werden. Außerdem gibt es diesen Mütter-Mythos, der besagt, dass jede Frau Mutter werden muss und dass Muttersein automatisch glücklich macht. Bei uns in Deutschland hat die Studie 2015 höhere Wellen geschlagen als in anderen Ländern. Das führe ich darauf zurück, dass wir eine ganz besondere Geschichte haben in Bezug auf die Mutterrolle. Denken Sie an die Mutterkreuze und das nationalsozialistische Mutterbild. Und später haben sich dann in Westdeutschland die Mütter gegenüber der DDR abgegrenzt: Dort haben die Frauen beispielsweise viel häufiger gearbeitet, die Kinder waren in Kitas. Das Bild der sich aufopfernden Mutter, die rund um die Uhr für die Kinder daheim bleibt, wurde in Westdeutschland regelrecht kultiviert.

Ist das Phänomen an sich neu oder hat man es einfach bisher nicht als solches benannt?

Das Ungewöhnliche ist nicht, dass die Mütter unglücklich sind. Das Ungewöhnliche ist, dass sie äußern, dass sie unglücklich sind. Und das ist etwas, das wir vorher so noch nicht erlebt haben.

Donath: "Die Ansprüche an Mütter werden immer höher"

Fast alle Mütter werden die Inszenierung der Mutterschaft auf Social Media kennen. Alle sind immer glücklich, perfekt gestylt, die Kinder sind wohlerzogen. Welche Rolle spielt Social Media in diesem Kontext?

Die Ansprüche an Mütter werden immer höher und Social Media ermöglicht, dass das noch schneller geht und sich Frauen dem nicht mehr erwehren können – und zwar rund um die Uhr. Früher haben die Mütter den gesellschaftlichen Druck und die Erwartungen an ihre Rolle dann zu spüren bekommen, wenn sie eine Frauenzeitschrift gelesen haben. Durch Social Media werden die Frauen den ganzen Tag mit den an sie gestellten Anforderungen konfrontiert.

Sie sagten zu Beginn, die Frauen lieben ihre Kinder. Wie kann man seine Kinder lieben und gleichzeitig die Mutterrolle ablehnen?

Die Mütter lieben ihre Kinder als Personen. Aber sie sagen auch: Würde ich mein Kind noch nicht kennen und wüsste gleichzeitig, was mit der Mutterrolle für Anforderungen verknüpft sind, würde ich mich nicht noch mal entscheiden, Mutter zu werden. Sie lieben die Kinder, finden die Mutterrolle, wie sie in Deutschland aussieht, dennoch furchtbar. Ich habe in einer Analyse (Studie aus 2015, nachzulesen in dem Buch "Wenn Mutter sein nicht glücklich macht - Das Phänomen Regretting Motherhood", Anm. d. Red.) zwei Gruppen von Müttern identifiziert: Bei der einen Gruppe handelt es sich um Frauen, die eigentlich nie Kinder bekommen wollten, aber regelrecht bequatscht wurden. Diese Mütter hatten von Beginn an Zweifel. Dann gibt es die zweite Gruppe: Diese Frauen wollten unbedingt Kinder haben und haben sich auch immer als Mutter gesehen, leiden jetzt aber unter den Rahmenbedingungen, fühlen sich von ihrem Partner alleingelassen, werden im Beruf diskriminiert.

"Müttern vorzuwerfen, sie hätten sich das vorher überlegen sollen, finde ich verrückt"

Was macht es mit den Kindern, wenn die eigene Mutter ihre Mutterschaft bereut? Wie können sich Mütter ihren Kindern gegenüber verhalten?

Das Gute ist, dass sich viele von den bereuenden Müttern intensiv mit der Mutterrolle auseinandersetzen. Das sind hoch reflektierte Frauen, die sich damit befasst haben, was sie konkret belastet und wie sie Entlastung finden können. Wenn Mütter beispielsweise feststellen, dass sie immer nachmittags besonders gestresst sind, weil sie eigentlich noch arbeiten müssten, die Kinder aber aus der Kita holen müssen, dann hilft es, die Großmutter, den Vater oder Freunde mit ins Boot zu holen. Das ist ein großer Schritt, denn es gibt viele unglückliche Menschen, die ihr Unglücklichsein gar nicht reflektieren. Deswegen braucht man sich um die Kinder keine Sorgen zu machen. Den Frauen ist es vielmehr wichtig, dass ihre Stimme gehört wird und sie wünschen sich gesellschaftliche Veränderung.

Ich rate Müttern - insbesondere kleinen Kindern gegenüber - das Thema an sich nicht zu diskutieren. Dass man unglücklich mit der Rolle ist und dass einen etwas stört, kann man natürlich Kinder mal hören lassen. Aber niemals sollte der Satz fallen: "Hätte ich dich mal lieber nicht bekommen". Kinder können den Gesamtzusammenhang nicht verstehen und würden das in jedem Fall auf sich beziehen und als Ablehnung verstehen.

Job, Mann, Haushalt, Erziehung, die Erwartungshaltung an Mütter ist enorm. Wie kann man sich davon frei machen?

Wenn man feststellt, dass einen die Mütter-Gruppe beispielsweise total runterzieht, oder dass einem das Lesen von Mütter-Blogs nicht guttut, dann sollte man sich davon distanzieren. Gleichzeitig hilft es, sich mit den Müttern zu umgeben, die eine ähnliche Sichtweise haben und den Druck auch spüren. Offener Austausch ist essenziell. Dann wird man feststellen, dass es sehr vielen Frauen so geht und dass man nicht allein ist. Das hilft im Übrigen nicht nur bereuenden Müttern. Denn gestresst und genervt sind alle mal.

Noch vor einigen Jahren war es normal, dass zwei, drei Generationen unter einem Dach leben und sich mehrere Personen um die Kinder kümmern. Heutzutage lebt die Kernfamilie meist für sich. Denken Sie, dieser Fokus auf die Kernfamilie gepaart mit mangelnder Unterstützung ist einer der Gründe, warum die Mütter bereuen?

Absolut. Früher nannte man das "Das ganze Haus", also die ganze Familie hat sich mit gekümmert. Mit dem Rückzug auf die Kernfamilie wird es für die Mütter wesentlich schwerer. Das hängt auch mit der zunehmenden Mobilität in unserer Gesellschaft zusammen. Viele Familien sind hunderte Kilometer von den Großeltern entfernt und dann wird es eng: Was passiert, wenn die Mutter krank wird oder auf eine Konferenz muss? Oft bleibt wieder alles an der Mutter hängen und das führt zu großem Stress, der unglücklich macht.

Viele Leute würden jetzt sagen, die Frauen könnten sich ja vorher überlegen, ob sie Kinder bekommen wollen. Was kann man darauf entgegnen?

Wie vorher angesprochen gibt es die Gruppe von Müttern, die eigentlich nie Kinder wollte, sich aber überzeugen ließ. Das Problem dieser Frauen hängt stark zusammen mit dem Umgang mit kinderlosen Frauen in unserer Gesellschaft. Ihnen wird immer wieder eingeimpft, es sei unnormal, keine Kinder bekommen zu wollen. Viele Kinderlose fühlen sich sehr unter Druck gesetzt, etwa mit Fragen wie: "Und, wann ist es so weit?". Wenn man dann jung und verunsichert ist, vertraut man dem eigenen Bauchgefühl nicht mehr. Dann bekommen diese Frauen Kinder und merken hinterher, dass es sie unglücklich macht. Müttern vorzuwerfen, sie hätten sich das vorher überlegen sollen, finde ich verrückt. Permanent bereuen Menschen ihre Lebensentscheidungen und da haben wir als Gesellschaft viel mehr Verständnis. Die meisten Dinge - Partner, Job, Auto - sind zu ändern. Aber wenn Kinder da sind, dann sind sie da. Deswegen wird das Bereuen den Müttern nicht verziehen. Daneben gibt es die Gruppe an Frauen, die Mutter werden wollte, aber tatsächlich keine Vorstellung hatte, wie anstrengend es werden würde. Wie kann man das auch wissen? Selbst wenn man schon ein Kind hat, weiß man vorher nicht, wie das Leben mit zwei Kindern aussehen wird.

Auch die Politik muss aktiv werden, um Mütter zu entlasten

Wie kann ich als Mutter damit umgehen, wenn ich feststelle: Ich bereue es, Mutter zu sein?

Für die Betroffenen ist es wichtig, zu analysieren, was genau sie unglücklich macht. Dazu kann man ein Tagebuch führen und festhalten, wann man gestresst und traurig ist. Manche stellen fest, dass diese negativen Gefühle immer zur Rushhour auftreten, wenn sie neben dem Essen machen noch Hausaufgaben betreuen sollen. Erst dann kann man an Lösungen arbeiten und schauen, wie man Entlastung bekommen kann. Auch der Austausch mit anderen Müttern hilft. Zu sehen, dass man nicht allein mit diesem Problem ist, ist sehr wichtig. Man merkt dann, dass es kein individuelles Versagen ist und man sich nicht ständig martern muss. Wenn diese negativen Gefühle Überhand nehmen, sollte man sich professionelle Hilfe in Form eine Therapie suchen. Das wird nicht dazu führen, dass man das Kinderkriegen doch nicht mehr bereut, aber man lernt, anders damit umzugehen.

Welche Rolle spielen die Väter? Was kann der Partner tun?

Ganz einfach: Er muss da sein. Viele Frauen, die die Mutterschaft bereuen, berichten, dass sie sich von den Vätern im Stich gelassen fühlen. Mit der Geburt des Kindes laufen viele Partnerschaften nicht mehr gleichberechtigt. Die Mütter werden mit der Überforderung und dem Stress allein gelassen. Partner sollten ihren Frauen zuhören und gemeinsam mit ihnen schauen, wo sie konkret unterstützen können. Das kann bedeuten, dass der Mann seinen Job um ein paar Stunden reduziert oder an fixen Tagen die Kinder abholt und betreut.

Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nach wie vor eine Herkulesaufgabe für die meisten Eltern, vor allem für Frauen. Was könnte die Politik tun, um Familien, um Mütter mehr zu unterstützen?

Natürlich brauchen wir eine flächendeckende und qualitativ hochwertige Kinderbetreuung, auch für Schulkinder. Zudem muss die Kinderbetreuung erschwinglich sein, die Gebühren sind ja von Bundesland zu Bundesland sehr verschieden. Mit Blick auf die Alleinerziehenden könnte die Politik sie Paaren steuerlich gleichstellen. Wenn finanzieller Druck dazu kommt und man sich die Babysitterin am Abend eben nicht leisten kann, kann die Mutter gar nicht mehr zwischendurch entspannen. Leider spielt auch Gewalt eine Rolle: Die Istanbul Konvention wird von der Politik nicht gut genug umgesetzt. Gewaltschutz wird regelmäßig missachtet, wenn es um das Umgangsrecht des Vaters geht. Es kann nicht sein, dass sich Mütter auch da noch aufreiben und ihre Kinder vor Gewalt schützen müssen.

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Zur Person: Christina Mundlos ist Soziologin und Autorin von sieben Büchern zur Frauen- und Mutterrolle. Darüber hinaus bietet sie Coaching für Mütter an, die von Gewalt in Sorgerechts- und Umgangsverfahren bedroht sind. Weitere Informationen finden Sie unter www.christina-mundlos.de/beratung Sie ist 39 Jahre und kommt aus Braunschweig.
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