Jedes Flugzeug verursacht Turbulenzen. Je größer, desto heftiger. Mindestabstände sollen die Gefahr solcher Wirbelschleppen für kleinere Flieger mindern. Doch reichen sie aus? Ein Vorfall über dem Arabischen Meer wirft Fragen auf.
Ein deutscher Business-Jet gerät über dem Arabischen Meer ins Trudeln. Er dreht sich mehrmals um die Achse und stürzt über 2.000 Meter tief, bevor die Piloten das Flugzeug auffangen und in Muskat im Golfstaat Oman landen können. Vier nicht angeschnallte Passagiere und eine Stewardess werden verletzt, das Flugzeug ist schwer beschädigt. Haben Luftverwirbelungen - sogenannte Wirbelschleppen - eines Großflugzeugs die zweistrahlige Challenger vom Typ 604 beinahe vom Himmel geholt? Dafür spricht aus Sicht von Experten einiges. Wenn es so wäre - wie sicher ist dann der vielbeflogene deutsche Luftraum?
Demnächst will die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) in Braunschweig ihren Zwischenbericht zu dem Beinahe-Absturz vom 7. Januar veröffentlichen. Das Ergebnis wird mit Spannung erwartet - von Piloten wie von der Deutschen Flugsicherung in Karlsruhe. Zwar hat es über Deutschland bislang nichts Vergleichbares gegeben. Lehren aus dem Unfall könnten gleichwohl gezogen werden.
Wirbelschleppen sind ein bekanntes Phänomen: Vor allem bei Start und Landung können kleinere Flieger in den Sog von größeren geraten. "Piloten wissen um die Gefahren und sind darauf vorbereitet", sagt Jörg Handwerg, Vorstand der Pilotenvereinigung Cockpit. "Im Reiseflug hätten wir aber mit so etwas nicht gerechnet." Denkt er an den Vorfall, über den Fachmedien und der "Spiegel" berichteten, läuft es dem erfahrenen Piloten "kalt den Rücken herunter".
20-Tonnen-Maschine überschlägt sich in der Luft
"Hoch über dem Arabischen Meer und aus heiterem Himmel brach die Hölle los. Eben noch lag der zweistrahlige Business-Jet vom Typ Challenger 604 ruhig in der Luft - nun aber wirbelte die 20-Tonnen-Maschine plötzlich herum wie ein Papierflieger im Windkanal. Die linke Tragfläche schlug nach unten um. Dreimal rollte der Jet um seine Längsachse, er rüttelte und schüttelte, die Passagiere schrien; alle, die nicht angeschnallt waren, flogen in der Kabine umher und versuchten verzweifelt, sich an irgendetwas festzuklammern. Flug MHV 640 stürzte in die Tiefe", schildert das Nachrichtenmagazin die dramatischen Minuten.
"Da schluckt man schon", sagt Pilot Handwerg, der die Kollegen bewundert, die das Flugzeug sicher heruntergebracht haben. Doch was war der Auslöser? Wetterkapriolen sind keine bekannt. Frank Holzäpfel, Strömungsspezialist beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), hält eine Wirbelschleppe als Ursache für "durchaus möglich". Wirbel von großen Flugzeugen könnten bei entsprechenden Wetterbedingungen über 300 Meter absinken - das ist der vertikale Sicherheitsabstand, den Flugzeuge einhalten müssen. "Aber es muss schon blöd laufen, dass man in so einen Wirbelkern gerät."
Auch Pilot Handwerg tippt "wegen der extrem hohen Rotation" auf eine Wirbelschleppe. Die Challenger könnte durch Seitenwind in den tückischen Wirbel geraten sein, vermutet er. "Da kam wohl alles zusammen. Ein absoluter Ausnahmefall."
Erwiesen ist davon bislang nichts. "Es können noch keine abschließenden Feststellungen bezüglich der Ursachen getroffen werden", heißt es von der Bundesstelle BFU. Die Unfallexperten untersuchen, welche Flugzeuge in der Nähe waren, technische Aspekte der Unglücksmaschine, das Wetter und wissenschaftliche Erkenntnisse zur Ausbreitung von Wirbelschleppen.
Nach Medienberichten sollen vier Riesen-Flugzeuge in der Region unterwegs gewesen sein, darunter drei Airbus-Maschinen vom Typ A380. Das mit 560 Tonnen größte Passagierflugzeug kann laut DLR-Experte Holzäpfel sehr starke Luftwirbel entwickeln, genauso wie eine Boeing 747 oder eine Antonov An-225.
Gefährliche Situationen selten
Lotsen wie Piloten kennen die Risiken. Landet ein kleineres Flugzeug hinter einem Jumbojet, muss es an Flughäfen einen Mindestabstand einhalten. Beim Flug muss eine Distanz von vertikal über 300 Metern und horizontal von etwa neun Kilometern eingehalten werden. "Wirbelschleppen sind ein Phänomen wie das Wetter, aber normalerweise kein Problem", sagt Boris Pfetzing, der Sprecher der Deutschen Flugsicherung (DFS) in Karlsruhe. "Turbulenzen bei Gewitter oder Laser-Attacken beschäftigen uns häufiger."
Rund 1,8 Millionen Flüge im Jahr kontrolliert die DFS von Karlsruhe aus in Europas größter Kontrollzentrale für den oberen Luftraum über 7500 Metern. In den vergangenen Jahren hat sie insgesamt nur ein Dutzend Wirbelschleppen-Ereignisse registriert, meist Turbulenzen ohne größere Folgen. Zwar hat 2002 die Wirbelschleppe einer Boeing 737 beim Landeanflug in Dortmund 40 Ziegel von einem Schuldach gezogen - doch, so Pilot Markus Wahl: "Wirklich gefährliche Situationen sind eher selten."
Er ist selbst schon in die ein oder andere Wirbelschleppe geraten. Nur bei einer Begegnung als Pilot eines A330 mit einer Wirbelschleppe eines A380 über dem Schwarzen Meer kam er ins Schwitzen: "Wir hatten eine plötzliche Schräglage von circa 60 Grad." Trolleys flogen umher, Getränke kippten um. Der Schreck war groß, verletzt wurde zum Glück niemand.
Einen Unfall wie 2001 in New York, wo eine Wirbelschleppe nach dem Start 260 Menschen in den Tod riss, gab es im deutschen Flugraum nicht. "Es werden Millionen von Meilen geflogen - es passiert so gut wie nichts", betont DFS-Sprecher Pfetzing. Er ist gespannt auf den BFU-Bericht zum Beinahe-Absturz über dem Arabischen Meer. Und auch, ob Schlüsse daraus gezogen werden müssen.
Schließlich nimmt der Flugverkehr über Deutschland stetig zu. In diesem Jahr erwartet die DFS über Deutschland 3,15 Millionen Flüge. Das wäre der höchste Stand seit dem Einbruch durch die Finanzkrise im Jahr 2008. Von der Kapazität her kein Problem, so die DFS. Pilot Wahl gibt aber zu bedenken: "Je dichter ein Luftraum beflogen ist, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Wirbelschleppen-Begegnung."
Die Abstandsvorschriften decken nach Einschätzung von Cockpit-Vorstand Handwerg "99,9 Prozent" der möglichen Fälle ab. Wenn tatsächlich eine Wirbelschleppe für den Unfall am 7. Januar verantwortlich war, müsse man eventuell "nachjustieren" und die Sicherheitsabstände vergrößern. © dpa
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