Für mehrere Tage hat UNICEF-Geschäftsführer Christian Schneider unsere Kollegen im Südsudan begleitet und erzählt von seinen Begegnungen sowie dem Nothilfeeinsatz für die Kinder an einem der härtesten Orte der Welt. Dort geht der mit gnadenloser Gewalt ausgetragene Konflikt ins fünfte Jahr.
"Bei meinem letzten Besuch vor drei Jahren dachte ich: Das ist die schlimmste vorstellbare Situation für Kinder und ihre Familien. Jetzt weiß ich: Es hört nicht auf, für Millionen Kinder," erzählt Christian Schneider, Geschäftsführer von UNICEF.
Was ein Kind nie erleben sollte
Peters (Name geändert) vielleicht wichtigste Reise im Leben beginnt mit kleinem Gepäck. Immer wieder nestelt der schmale Zehnjährige an seinem Rucksack herum, faltet Kleidungsstücke noch einmal auf, prüft seinen Proviant.
Kann ich wirklich nachfühlen, was dieser Flug mit einem Hubschrauber der UN-Mission im Südsudan für diesen Jungen bedeutet? Peter hat in seiner Kindheit mehr verkraften müssen als in ein erstes Lebensjahrzehnt passt. Viel mehr als ein Kind überhaupt erleben sollte.
Allein im Chaos der Flucht
"Explorer" (dt. "Forscher") steht in großen Buchstaben auf seinem T-Shirt. In zweieinhalb Stunden wird Peter seine Familie neu entdecken. Vater, Mutter, Bruder und Tanten warten im Schutzlager Bentiu auf ihn. Drei Jahre nach der verzweifelten Flucht aus ihrem Dorf ist der Sohn endlich auf dem Weg zurück zu ihnen.
Lange mussten sie ihn für tot halten, für eines der Tausenden Opfer jener grausamen Explosion der Gewalt, die 2013 begann. Während die Familie ihr Leben und nicht viel mehr in das Lager rettete, verschwand Peter in den Wirren der Flucht.
Inmitten des Chaos war er allein und fand sich in einem Flugzeug wieder, das ihn in Sicherheit brachte, in die Hauptstadt Juba. Dort lebte er in einem Schutzlager der UN, zunächst bei einem Verwandten, der allerdings bald starb.
5.100 Kinder zurück in ihrer Familie
Seitdem war Peter ein "unbegleiteter Minderjähriger". Und mit dem heutigen Tag ist er eines von gut 5.100 Kindern, die UNICEF in enger Zusammenarbeit mit seinen Partnerorganisationen wieder mit den Eltern oder Verwandten zusammenführen konnte.
Etwa 16.000 Jungen und Mädchen teilen dieses Schicksal mit Peter. 16.000 furchtbare Momente, in denen Familien in Todesangst auseinander gerissen wurden. 16.000 Kinderschicksale, die unsere Kinderschutzkolleginnen besonders anspornen.
Um dann hoffentlich einen Moment wie diesen erleben zu dürfen: Schüchtern, mit hoch gezogenen Schultern, steht Peter zwischen den Wellblechhütten des riesigen Lagers von Bentiu. Die Frauen stimmen Gesänge an. Sie tanzen gemeinsam mit ihm auf einen kleinen Platz zu, segnen den Jungen und seine Begleiter mit in Wasser getränkten Zweigen.
Und dann ist Peter plötzlich wieder bei seiner Mutter und seinem Vater, nach mehr als drei langen Jahren Kindheit ohne Eltern. Sie umarmen ihren Sohn, vorsichtig, fast ohne Worte. Es ist gut, dass die singenden Frauen mit ihrem Gesang dem bangen Moment die Schwere nehmen. In ihrer Freude darüber, dass er zurück ist, darüber, dass er lebt, wollen sie ihn immer wieder berühren.
Der hagere Vater hält sich den Kopf: "Wir konnten es erst gar nicht glauben, dass er lebt, dass man ihn gefunden hat. Wir sind so froh", versucht er in Worte zu fassen, was kaum zu beschreiben ist.
Die Rückkehr der Kindersoldaten
Was für ein Moment der Freude, was für eine Stunde des Friedens im Schutzlager Bentiu, während an anderen Orten genau jetzt Kinder verstümmelt oder getötet werden, während in den Reihen der Konfliktparteien insgesamt 19.000 Jungen und Mädchen vielleicht gerade jetzt in den Kampf ziehen. Viele von ihnen werden gezwungen, unbewaffnete Menschen zu erschießen, Dörfer niederzubrennen.
Auf dem Weg in eine neue Siedlung außerhalb des Schutzlagers von Bentiu fahren wir in diesem Moment an Viehhirten vorbei, die ihre Rinder mit Stöcken über eine Brücke dirigieren. Über der Schulter jedes der jungen Männer hängt eine Kalaschnikow.
Ich erinnere mich an meinen Besuch im Südsudan kurz vor der Gründung des neuen Staates. Das UNICEF-Team war seinerzeit guten Mutes, endlich die letzten rekrutierten Kinder frei zu bekommen, nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges, in dem so viele Kinder kämpfen mussten.
Mühsam geschaffene Momente der Kindheit
Heute, sieben Jahre später, muss unser UNICEF-Team leider wieder mit aller Kraft versuchen, zwischen all den Waffen, der Gewalt und der Angst unbeschwerte Momente von Kindheit zu schaffen.
Im Schutzlager Bentiu, aber auch mobil in neu entstehenden Siedlungen außerhalb, richtet UNICEF kinderfreundliche Orte ein, Spielangebote mit geschulten Betreuern.
Auf einer Lichtung in der Siedlung Kochthley tanzen zig Kinder und Jugendliche zu den Trommeln, andere sind mit Sportspielen beschäftigt.
"500 Kinder nutzen allein hier jeden Tag das Angebot, zwei Stunden zu spielen und zusammen zu sein", sagt die UNICEF-Kinderschutzexpertin Soraya. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen baut sie ein Netzwerk auf, in dem Kinder auch in diesen extremen Situationen der Flucht unbeschwerte, geschützte Zeit erleben.
Auch psychologische Hilfe notwendig
Gleichzeitig sorgen sich geschulte Mitarbeiter um Kinder und Jugendliche, denen die erlebte Gewalt so zugesetzt hat, dass sie weiterführende Hilfe brauchen. Mobile Teams suchen Hütten auf, um Familien in besonderer Notlage zu identifizieren und Hilfe anzubieten.
"Spiele, Malen, Gesang oder Tanz sind für die Kinder auch Wege, um ihre Gefühle auszudrücken", erklärt Soraya. "Die meisten Kinder haben trotz der schrecklichen Erlebnisse, die fast alle haben, eine enorme Kraft, weiterzuleben. Unsere kinderfreundlichen Angebote helfen ihnen dabei. Und sie ermöglichen uns auch, die Familien und die Kinder zu erreichen, die spezialisierte Hilfe brauchen."
Tausende Menschenrechtsverletzungen an Kindern
Deren Zahl nimmt weiter zu, während ich mit Soraya spreche. An jedem Tag werden weitere Kinder in letzter Minute ihre Häuser und Hütten verlassen und um ihr Leben laufen.
In jeder Stunde werden Jungen und Mädchen Opfer unglaublicher Gewalt, wird die Liste der schon heute über 3.500 dokumentierten schweren Menschenrechtsverletzungen an Kindern immer länger und länger.
Die einfachen Spielangebote, die Notschulen, die Hilfe für traumatisierte Kinder – all das müsste dringend viel mehr Jungen und Mädchen erreichen, eigentlich all die Kinder, die noch irgendwo im Südsudan oder in den Nachbarländern auf der Flucht sind.
Aber ausgerechnet für diese wichtige Kinderschutzarbeit fehlt dem UNICEF-Team dringend Geld. Für das kommende Jahr gibt es trotz viel Unterstützung von Regierungen und zahlreichen privaten Spendern bislang noch kaum Zusagen. Die Geschichte des kleinen Peter ist der dringendste Hilferuf, den ich mir vorstellen kann.
"Das ist es, wofür wir arbeiten"
Für Soraya, Mahimbo, Angela und das ganze UNICEF-Team gehören Tage wie dieser, an denen sie eine Familie endlich wieder zusammenbringen können, zu den Momenten, die ihnen selbst neue Kraft geben. Mustafa, unser UNICEF-Leiter in Bentiu, sagt zum Abschied aus dem Schutzlager, in dem so viele Menschen gestrandet sind:
"Das ist es, wofür wir arbeiten. Das große Ganze kann ziemlich hart aussehen. Und es ist schwer, alle Hindernisse zu überwinden, um die Hilfsgüter hierher zu bekommen. Aber diese Kinder heute zu sehen, das ist, wofür wir unsere Arbeit machen."
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