UNICEF-Geschäftsführer Christian Schneider berichtet über seine Begegnungen und den Nothilfeeinsatz für die Kinder im umkämpften Südsudan – ein Hilferuf für die Kinder dort.
Der Südsudan bleibt auch für die erste Generation Kinder seit der Gründung des jüngsten afrikanischen Staates einer der härtesten Orte für eine Kindheit. Der mit gnadenloser Gewalt ausgetragene Konflikt geht ins fünfte Jahr. Vier Millionen Menschen wurden vertrieben.
Ohne humanitäre Hilfe steht für die meisten Menschen im Land das Überleben auf dem Spiel. Die Gewalt und der Hunger greifen nach den Kindern: Gut eine Million sind akut mangelernährt, jedem vierten von ihnen droht ohne therapeutische Hilfe der Tod.
"Bei meinem letzten Besuch vor drei Jahren dachte ich: Das ist die schlimmste vorstellbare Situation für Kinder und ihre Familien. Jetzt weiß ich: Es hört nicht auf, für Millionen Kinder", berichtet Christian Schneider.
Die Kinder im Überlebensland
Seltsam, dass ausgerechnet Menschen, denen alle Ordnung, alles Gewohnte im Leben durch die grausame Gewalt des Krieges weggebrochen ist, im Lager der Geflüchteten in ein strenges Geviert aus schnurgeraden Pisten und eng besiedelten Rechtecken gepresst werden. Aber wie anders sollen Zuflucht, Versorgung, Schutz für so viele Menschen organisiert werden?
Es sind viele Kilometer Piste in der so genannten "Protection of Civilians Site (POC)" von Bentiu, dem größten Schutzlager der Mission der Vereinten Nationen im Südsudan.
Und es sind unglaublich viele Menschen, die in dieser neuen Ordnung inmitten der Hitze und des Staubs und der Hoffnungslosigkeit nur eines gesucht haben: Schutz vor der Gewalt. Schutz vor Schüssen, Machetenhieben, Vergewaltigungen, brandschatzenden bewaffneten Gruppen.
Seit den schweren Attacken auf Bentiu und viele Dörfer der Umgebung ab 2014 geht es für die Familien hier nur ums Überleben.
Der Krieg holt nur Luft
Und auch wenn die Kämpfe in diesem Teil des Südsudans zuletzt an Intensität verloren haben und Familien versuchen, sich ein neues Leben außerhalb der Schutzwälle aufzubauen, ist die Gefahr nicht vorbei.
Auch während unseres Aufenthalts hören wir, dass zwei Stunden Fahrt entfernt eine Attacke auf ein Dorf befürchtet wird. Vor wenigen Wochen wurden nicht weit weg Lehrer aus der Schule geholt und für eine bewaffnete Gruppe rekrutiert.
Der Krieg holt vielleicht nur Luft. Niemand hier glaubt, dass die Gewalt zu Ende ist.
Eine unglaubliche Aufgabe
Weil das so ist, zählt auch für den Leiter von UNICEF im Südsudan, Mahimbo Mdoe, und sein fast 400 Köpfe zählendes Team Tag für Tag vor allem eines: "Wir wollen mindestens alles tun, damit die Kinder überleben können."
Das ist eine unglaubliche Aufgabe in diesem Land, in dem nach vier Jahren eines äußerst brutal geführten Konfliktes acht Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.
Die Kinder brauchen buchstäblich alles
Fast vier Millionen sind auf der Flucht – entweder noch im eigenen Land oder schon jenseits der Grenzen, in Uganda, im Sudan. All diese Menschen brauchen alles, buchstäblich alles, um irgendwie weiterleben zu können. Und am meisten brauchen die Kinder.
Zu viele von ihnen haben diesem harten Leben aus Vertreibung, Angst, Hunger nichts mehr entgegen zu setzen. In den nächsten Tagen werden wir einige der fast 280.000 Kinder treffen, die so schwer mangelernährt sind, dass sie bei uns längst auf einer Kinderintensivstation versorgt würden.
114.000 Geschichten vom Krieg
Nachdem wir die schwer bewachte Einfahrt zum Schutzlager durchfahren haben, stehen wir also in der inzwischen zweitgrößten Stadt des Südsudans nach der Hauptstadt Juba: Gut 114.000 Männer, Frauen und Kinder leben, Stand heute, in diesem Lager.
114.000 Überlebende, immerhin. Unter ihnen viele, die verzweifelt sind, verängstigt, nachhaltig traumatisiert durch die rohe Gewalt, mit der sich der neue Bürgerkrieg im jüngsten afrikanischen Staat seinen Weg auch nach Bentiu in der nördlichen Provinz Unity schlug. Ja, Unity, Einigkeit heißt diese Provinz.
Solidarität unter Familien ist groß
Nur etwa 200.000 der Millionen Vertriebenen im Südsudan haben sich in ein solches Schutzlager geflüchtet. Viele, viele mehr sind bei Verwandten untergekommen, haben irgendwo auf ihrem Weg ins Ausland Zuflucht gesucht.
"Die Solidarität der Familien untereinander ist immens. Viele nehmen zwei, drei, vier Kinder auf, wenn die Eltern verschollen sind oder ums Leben kamen. Aber auch das hat Grenzen, wenn die Not einfach zu groß ist."
Das sagt Mustafa Ben Messaoud, der als Chef des UNICEF-Büros in Bentiu mit seinem Team aus 20 Kolleginnen und Kollegen mit aller Kraft versucht, Kinderleben zu retten und in der Trostlosigkeit des Lagers ein Stück Kindheit wiederherzustellen.
Die Verzweiflung ist riesig
Seit gut einem Jahr ist Mustafa hier im Einsatz, wohnt wie das ganze Team in einem Container am Rande des von den Vereinten Nationen bewachten und organisierten Lagers. Nur wenige Meter entfernt leben Zigtausende Kinder auf engstem Raum.
Zwei von drei der Lagerbewohner sind Kinder. Jedes einzelne von ihnen ist ein Kind in größter Not und den meisten stecken wohl noch die Angst, die schrecklichen Erlebnisse der Flucht, vielleicht der Tod von Familienmitgliedern in den Knochen.
"Oft haben die Familien bis zuletzt versucht, irgendwo in ihren Dörfern auszuharren. Viele haben am Ende alle Kinder in ein Boot gesetzt und es auf den Fluss hinaus geschoben, damit wenigstens die Kinder außer Reichweite für die Soldaten waren." Wie verzweifelt müssen diese Eltern gewesen sein.
Mustafa blickt von einem der Wachtürme auf die Tausenden mit Wellblech und Plastik gedeckten Notunterkünfte, auf die tobenden Jungen unten am Graben. 114.000 Geschichten vom Krieg. Und vom Überleben.
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