Griechenland am Rande des Chaos: Regierungschef Alexis Tsipras kann sich wohl nicht mehr lange halten, die Bürger leiden unter den Sparauflagen. Viele können sich keine ärztliche Behandlung und kaum noch Lebensmittel leisten. Die viel diskutierte humanitäre Katastrophe mitten in der EU als reales Szenario. Ein Erlebnisbericht.
"Wenn das so weitergeht, muss ich meine Heimat verlassen, damit ich meine Familie noch ernähren kann!" Christos Sideris redet hektisch, seine Stimme überschlägt sich beinahe. Er spricht über Griechenland, die Krise, die alltäglichen Schwierigkeiten der Menschen. "Die Zukunft sieht sehr düster aus", sagt der Athener im Gespräch mit diesem Portal. Sideris, ein Mittdreißiger, steht exemplarisch für den Frust vieler Griechen in seinem Alter. Gut ausgebildet, fleißig, verantwortungsbewusst, bereit, etwas zu ändern - doch am Rande des sozialen Abstiegs. Existenzängste begleiten ihn, seit er im April seinen Job verlor. "Ich weiß nun", schildert er, "was es heißt, mit 360 Euro Arbeitslosengeld monatlich auskommen zu müssen". Reichlich Melancholie schwingt mit, es ist die Grundstimmung vieler seiner Landsleute in diesen Tagen. "Es gab Monate, in denen wir darauf hofften, dass es sich zum Guten wendet", erzählt er. "aber nun fühlen wir genau das Gegenteil." Sidoris und viele Griechen kämpfen sich durch einen Alltag, den sie - seit Jahren gebeutelt - in dieser Härte so nicht erwartet hätten.
Die europäische Politik ringt um ihre Rettung. Die Basis aber bekommt die Auswirkungen der drastischen Sparauflagen schon jetzt gnadenlos zu spüren. Parlamentspräsidentin Zoe Konstantopoulou verglich das Abkommen mit den Euro-Ländern sogar mit "sozialem Völkermord". Man kann davon halten, was man will. Unter anderem aber soll die Mehrwertsteuer spürbar erhöht werden.
Kapital-Kontrollen verschärfen Situation
Dabei können die Griechen schon jetzt nur noch 60 Euro am Tag an Bankautomaten abheben, vorausgesetzt, diese geben überhaupt noch etwas her. Und der öffentliche Dienst steht kurz vor dem Kollaps. Aus Protest gegen das mit strikten Auflagen verbundene Hilfsprogramm hatten zahlreiche Mitglieder der Gewerkschaften die Arbeit niedergelegt. Der Streik legte den Verkehr teilweise lahm. Betroffen waren die Ministerien und die Metro in der Hauptstadt sowie der landesweite Bahnverkehr. Nichts ging mehr. Dabei müssen die Griechen, die noch eine Arbeit haben, doch zu dieser kommen. Denn Benzin ist in diesen Tagen ein wahres Luxusgut. Was grotesk klingt, ist längst bittere Realität.
"Die strengen Kapital-Kontrollen setzen uns zusätzlich unter Druck", erzählt Sideris im Gespräch mit diesem Portal, "wir tun uns immer schwieriger dabei, die simpelsten Angelegenheiten zu regeln, sei es, bei einer Apotheke Medikamente zu bekommen oder im Supermarkt Grundnahrungsmittel zu kaufen. Es ist kaum möglich, das Ersparte von Sparbüchern oder Konten zu holen." Überweisungen ins Ausland sind nur nach einer Genehmigung der Zentralbank und des Finanzministeriums möglich. Die Regierung will um jeden Preis eine Kapitalflucht verhindern. Viele Griechen fürchten seit Monaten, dass der Staat ihre Konten in einem letzten, drastischen Schritt räumen könnte. Die Konsequenzen wären wohl verheerend. Krawalle vereinzelter Autonomer, wie in der Nacht nach dem Referendum, wären dann wohl erst der Anfang. Enttäuschung, Ernüchterung, Angst sind allgegenwärtig.
Probleme in jeder Lebenssituation
"Sieben Jahre Wirtschaftskrise und fünf Jahre Sparprogramm haben das griechische Volk schwer getroffen. 60 Prozent der Bevölkerung lebt am Rande oder unterhalb der Armutsgrenze. Drei Millionen Griechen haben nicht mal mehr eine Krankenversicherung", erzählt Sidoris. "Die, die noch einen Zugang zum öffentlichen Gesundheitswesen haben, können kaum noch ihre Beiträge geschweige denn die Medikamente bezahlen." Das Reformprogramm sieht deshalb vor, dass im Zuge einer Marktliberalisierung rezeptfreie Medikamente künftig in Supermärkten verkauft werden dürfen. Eben jene Medikamente gab es Anfang der Woche aber gar nicht mehr - die Apotheker gingen gegen die geplante Liberalisierung auf die Straße. Ein Beispiel, das zeigt, wie einzelne Berufsgruppen um ein gerechtes Einkommen bangen.
Jede Seite versucht in dieser misslichen Lage Druck auszuüben. Büßen muss das Volk. Sidoris und andere Freiwillige gründeten deshalb bereits 2011 die Städtische Gemeinschaftsklinik im Randbezirk Helliniko "als ein Weg des Widerstands gegen die wirtschaftliche Kriegsführung gegen das griechische Volk", wie er sagt. "Leider wird die Klinik vier Jahre später mehr denn je gebraucht. Die meisten Leute sind arbeitslos oder verarmt und können sich nicht mal mehr die billigsten Medikamente leisten." Die Klinik kann sich dank Sachspenden aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland, halten.
Dennoch fordert auch dieser Widerstand seinen Tribut. So brach Chefarzt Giorgios Wichas jüngst unter der körperlichen Belastung zusammen, teils bis zu zwanzig Stunden am Tag hilfsbedürftige Bürger unentgeltlich zu behandeln. Es zeigt, dass die Folgen der Krise auch vor den Mutigen nicht Halt machen. Sidoris ist kein Fantast, sondern Realist. Dass sich in den kommenden Monaten für ihn was ändern wird, glaubt er nicht. Und so stellt er sich darauf ein, was er und viele Griechen eigentlich gar nicht wollen: ihre geliebte Heimat zu verlassen.
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