• Der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn hatte Tariflöhne auch bei privaten Pflegedienstleistern durchgesetzt.
  • Das sorgt jetzt für Probleme: Viele private Pflegedienstleister seien existenziell bedroht, so Branchenverbände.
  • Pflege-Forscherin zu Tarifbindung: "Guter Schritt, aber löst nicht alle Probleme".

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Bevor die Corona-Krise Anfang 2020 die Welt auf den Kopf gestellt hatte, gab es im Gesundheitsministerium in der Friedrichstraße in Berlin vor allem ein Thema: den Pflegenotstand. Immer mehr Menschen werden immer älter und müssen bis ins hohe Alter gepflegt werden.

Schwierige Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung und wenig gesellschaftliche Anerkennung haben aber zuletzt dafür gesorgt, dass viele Pflegekräfte ihren Job aufgegeben haben oder Nachwuchs den Pflegeberuf gar nicht erst in Betracht gezogen hat. Die Corona-Pandemie, die zeitweise unser Gesundheitssystem bis an den Rand der Belastungsgrenze gebracht hat, hat den Missstand noch einmal verstärkt.

Der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn hatte daher einige Maßnahmen überlegt, um für mehr Personal im Pflegebereich zu sorgen. So war er auf Werbereise unter anderem auf dem Balkan, um Pflegekräfte nach Deutschland zu locken. Er hat aber auch dafür gesorgt, dass in der Pflege flächendeckend Tariflöhne eingeführt wurden – auch bei privaten Pflegeanbietern.

Ab dem 1. September soll die Tarifbindung Pflicht sein. Private Anbieter, die nicht nach Tarif zahlen, dürfen dann nicht mehr von den Kassen Geld erhalten. Das sorgt jetzt für Probleme. Gerade kleinere Pflegedienstleister seien nicht in der Lage, alle ihre Mitarbeiter nach Tarif zu bezahlen, weil sich Krankenkassen teilweise noch weigern, die höheren Kosten zu übernehmen.

Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (BPA) warnt daher. Die Lohnerhöhung werde "gerade für kleine Betriebe extrem herausfordernd", sagt Geschäftsführer Bernd Tews dem "Spiegel" zufolge.

Bundesgesundheitsministerium sieht "positive Signale"

Das Bundesgesundheitsministerium sieht keinen Grund zur Beunruhigung. Gegenüber unserer Redaktion gibt es in einem schriftlichen Statement an, dass es in Gesprächen mit der Pflegeselbstverwaltung "positive Signale" erhalten habe, "dass es in den Ländern bereits sehr konzentrierte und konstruktive Bemühungen gibt, sich auf pragmatische und einvernehmliche Lösungen hinsichtlich des Verfahrens zu verständigen, um zu angepassten Vergütungsvereinbarungen zu kommen."

Das Gesundheitsministerium geht davon aus, dass sich flächendeckend Kostenträger und Leistungserbringer schnellstmöglich auf tragfähige Einigungen verständigen, um die gesetzlichen Voraussetzungen einzuhalten. Außerdem wird darauf verwiesen, dass die Kassen gesetzlich verpflichtet sind, nach Tarif beziehungsweise dem regional üblichen Entgeltniveau zu vergüten.

Pflege-Expertin: "So gesehen, hilft die Tarifbindung"

Aber hilft die Tarifbindung, das eigentliche Problem, die schlechte Personalsituation in der Pflege, zu bekämpfen? Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung aus diesem Mai ergibt: 300.000 Pflegekräfte könnten sich vorstellen, in die Pflege zurückzukehren, wenn sich die Arbeitsbedingungen verbessern würden. "So gesehen hilft die Tarifbindung", erklärt Pflege-Forscherin Tine Haubner von der Universität Jena gegenüber unserer Redaktion.

Tariflöhne würden helfen, den Beruf attraktiver zu machen. Allerdings müsse mehr als das geschehen. Auch die Arbeitsbedingungen müssten sich verbessern sowie die gesellschaftliche Anerkennung des Berufs, so Haubner. Weitere Probleme wie hoher Zeitdruck bestünden weiterhin: "Die Tarifbindung wird die Personalsituation in der Altenpflege nicht komplett lösen."

Abgesehen davon ist Haubner auch skeptisch, ob die Preissteigerung nicht auch zulasten der Pflegenden oder deren Angehörigen geht – oder der Beitragszahler generell. "Steigende Personalkosten in der Pflege werden sich früher oder später auch bei den Beitragssätzen bemerkbar machen", so Haubner. Zwischen 1.800 Euro und 2.000 Euro kostet eine stationäre Unterbringung bei der Altenpflege.

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"Eines der zentralen Ziele, die Armutsvermeidung, wurde damit nicht erreicht. Eine sozial gerechte, nachhaltige Pflegepolitik braucht eine nachhaltige Finanzreform der Pflegeversicherung", so Haubner. Die Mehrkosten dürften letztlich nicht bei den Angehörigen oder zu pflegenden Personen hängen bleiben.

Aktuell unterstütze der Bund hierbei, allerdings würde das nicht ausreichen. "Steuerpolitisch wäre es sinnvoll, Besserverdienende mehr zu Kasse zu bitten", so Haubner. Außerdem würde es Sinn ergeben, die Arbeitgeber stärker einzubinden in die Finanzierung der Pflegeversicherung.

Über die Expertin: Tine Haubner ist Soziologin und Pflege-Forscherin. Sie forscht an der Universität Jena zu Informelle oder unbezahlte Arbeitstätigkeiten, Reproduktions- und Sorgearbeit (Schwerpunkt: Pflege), freiwilliges Engagement und Arbeitslosigkeit.

Verwendete Quellen:

  • Telefonat mit Tine Haubner
  • Schriftliches Statement des Bundesgesundheitsministeriums
  • Studie der Hans-Böckler-Stiftung
  • Spiegel.de: Streit über Tariflöhne in der Pflege "Ein richtiger Tritt in den Arsch"
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