Von 172,5 Millimeter auf 165er-Kurbeln – Teil der Erfolgsformel von Topfahrer Tadej Pogacar. Bikefitting-Experte Daniel Schade von Gebiomized erläutert die Vorteile kürzerer Kurbelarme – wir haben zudem den Unterschied einer kürzeren Kurbel ausprobiert.
2024 war DAS Jahr des Tadej Pogacar: Der Slowene holte zunächst das Double aus Giro d'Italia und Tour de France, ehe er sich im September zum Straßenweltmeister krönte. Zudem gewann er neben Strade Bianche auch die Katalonien-Rundfahrt, Lüttich-Bastogne-Lüttich sowie den Giro dell'Emilia. Teil seiner Erfolgsformel: Der Wechsel von 172,5 Millimetern Kurbellänge zu 165 Millimetern. Auch andere Spitzenfahrer wie der Brite Thomas Pidcock setzen auf kurze Kurbelarme. Sollten auch Hobbysportler wechseln? Das haben wir den Bikefitting-Experten Daniel Schade von Gebiomized gefragt.
Warum geht der Trend zu kürzeren Kurbeln?
Ich freue mich, dass die kürzeren Kurbeln derzeit so viel Aufmerksamkeit erfahren. Bei Gebiomized diskutieren wir das Thema schon seit zehn Jahren mit unseren Profiteams. Die waren anfangs sehr skeptisch, aber als wir deutliche Werte für den Aero-Nutzen und die Beckenstabilität liefern konnten, war die Überzeugung da. Die Idee kommt von den Zeitfahrpositionen. Denn bei einer tiefen Oberkörperhaltung wird das Becken nach vorn gekippt und so der Hüftwinkel verengt. Die Kraftübertragung ist dann bei zu langen Kurbeln stark eingeschränkt. In den letzten Jahren haben wir immer besser erkannt, wie sehr das die Leistung auch auf dem Straßenrad limitiert.
Wie hängen Kurbellänge und Körpergröße zusammen?
Unserer Erfahrung nach gibt es keinen generellen Zusammenhang, auch wenn große Räder in der Regel mit längeren Kurbeln ausgestattet werden. Glücklicherweise kommen seit einigen Jahren viele Radhersteller auf uns zu und bitten um Rat, welche Kurbeln an welcher Rahmengröße verbaut werden sollten. Ich sehe wenig Grund, eine 175er-Kurbel an großen Rädern zu verbauen. Ich bin der Meinung, dass 172,5 Millimeter selbst bei Rahmengröße XL ausreichen.
Was spricht für kürzere Kurbeln?
Wir haben festgestellt, dass sich dadurch die Beckenstabilität verbessert. So ist es für den Fahrer leichter, den oberen Totpunkt beim Treten zu überwinden. Das ist der kritischste Bereich der Pedalumdrehung, da die Hüfte hier maximal verengt ist, der Oberkörper kann nur schwer unterstützen. Außerdem spielt die Ermüdung eine große Rolle. Die Tretbewegung 80- bis 100-mal pro Minute zu wiederholen, erzeugt nach vielen Stunden Kompensationsmuster bzw. Ausgleichsbewegungen. Das Becken stellt sich dann auf oder der Rücken wird rund – untere Rückenschmerzen sind die Folge. Oder das Knie wird am oberen Totpunkt rausgestellt, um unbewusst den Hüftwinkel zu öffnen. Das ist aber physiologisch ineffizient, man rutscht mehr auf dem Sattel herum und aerodynamisch ist es ebenfalls schlechter, weil sich die Frontalfläche vergrößert.
Sind kurze Kurbeln aerodynamisch besser?
Die kurze Kurbel selbst verbessert die Aerodynamik kaum, die Frontalfläche verringert sich nur marginal. Der Aero-Gewinn liegt vielmehr in der verbesserten Körperhaltung. Wenn jemand durch den geöffneten Hüftwinkel dank kürzerer Kurbel länger im Unterlenker oder in Aero-Position verbleiben kann, bringt das auf dem Zeitfahrrad bis zu 50 Watt. Auch wenn durch die kürzere Kurbel das Becken stabiler steht und der Sportler so weniger mit dem Oberkörper oder den Knien wackelt, optimiert sich der Luftstrom. Es ist die Summe aus mehreren Effekten, was den Aero-Gewinn ausmacht. Wir hatten jedenfalls noch keinen Aero-Test, bei dem die längere Kurbel aerodynamisch besser war.
Welcher Fahrertyp profitiert am meisten von kürzeren Kurbeln?
Egal ob Bergfahrer oder Sprinter, ob "Drücker" oder "HochfrequenzKurbler": Wir schauen beim Bikefitting immer auf die Kompensationsmuster im Bewegungsablauf, also die Beckenstabilität oder eine Kniebewegung nach außen. Dann kann eine der Maßnahmen sein, dass wir die Kurbellänge kürzer wählen. Grundsätzlich gilt: Wer eine tiefe, aerodynamische Position fahren möchte, der profitiert in der Regel von kürzeren Kurbeln. Wer hingegen aufrecht sitzt oder keinen Performance-Gedanken hegt, der kommt auch mit längeren Kurbeln häufig gut klar.
Woran erkenne ich ob meine Kurbel zu lang für mich ist?
Vor allem an Rückenschmerzen, starkem Rutschen auf dem Sattel oder Knieproblemen. Dann kann eine kürzere Kurbel helfen. Zudem kann es sinnvoll sein, sich auf der Rolle zu filmen, um Kompensationsbewegungen zu erkennen. Auch wenn ein Trainingskollege sagt, dass mein Knie immer etwas nach außen wandert, kann das ein Anzeichen für eine zu lange Kurbel sein. Obwohl es manchmal kleine Bewegungen sind, die man mit bloßem Auge nicht erkennen kann und für die es professionelle Messmethoden braucht. Wackelt das Knie gegen Ende der Druckphase, dann ist es nicht unbedingt die Kurbellänge, sondern eher die Cleat-Einstellung bzw. der Support durch die Einlegesohle. Wenn das Knie aber gegen Ende der Zugphase oder am Anfang der Druckphase instabil wird, also am oberen Totpunkt, dann liegt es meiner Erfahrung nach häufig an einer zu langen Kurbel.
Wann ist meine Kurbel zu kurz?
Bei einer zu kurzen Kurbel kann sich die Beckenstabilität wieder verschlechtern, wenn der Sportler anfängt im Sattel zu hüpfen. Das kommt in der Realität aber sehr selten vor, da viele Hersteller die Kurbellänge noch immer nach der Rahmengröße ausrüsten. Ich würde mal unterstellen: Wenn ein großer Sportler eine sehr kurze Kurbel fährt, dann wurde diese Entscheidung von ihm oder einem Bikefitter aus guten Gründen bewusst so getroffen.
Was spricht für mehr Kurbellänge?
Eigentlich nicht viel: Wer jedoch seit Jahren längere Kurbeln beschwerdefrei nutzt, eine eher aufrechte Sitzposition bevorzugt, eine hohe Flexibilität in der Hüfte und im unteren Rücken mitbringt und keine Kompensationsbewegungen macht, der kann auch längere Kurbeln fahren. Dann gilt: "Never change a running system". Bei Antritten aus dem Stand oder Sprints kann die längere Kurbel theoretisch helfen, mehr Leistung zu generieren. Hier muss man aber abwägen: Der Sprint erfolgt in der Regel nach vielen Stunden im Sattel, in denen ich wiederum durch kürzere Kurbeln Kraft gespart hätte, die ich nun im Sprint zusätzlich einsetzen könnte. Zumal der Sprint im Straßenradsport typischerweise aus hohem Tempo beginnt und nicht aus dem Stand erfolgt.
Wie groß sollte der Sprung bei einer Kurbelarmveränderung sein?
Bis zu fünf Millimeter Unterschied halte ich in einem Schritt für unproblematisch. Wer mehr verändern will, sollte das besser stufenweise tun. Ein Extrembeispiel wäre: erst von 175 mm auf 170 mm, dann auf 165 mm und dann auf 160 mm zu reduzieren. Tadej Pogacar ist 2023 auch zunächst von 172,5 mm auf 170 mm gewechselt und erst zur 2024er-Saison auf 165er-Kurbeln umgestiegen. Das erleichtert die Umgewöhnung. Für Hobbyfahrer wird so ein großer Sprung leider kostspielig, da man mehrere Kurbeln kaufen müsste.
Wie lange dauert die Anpassung an eine neue Kurbellänge?
Es braucht keine lange Umgewöhnungszeit, wenn man die Kurbel um maximal fünf Millimeter verändert. Viele Hobbyfahrer spüren den Unterschied nicht einmal, das habe ich bei uns im Labor oft erlebt. Will man hingegen von 175 auf 165 Millimeter gehen, sollte ein Zwischenschritt erfolgen. Und den sollte man einige Wochen fahren, um sich langsam heranzutasten: vier bis sechs Wochen mit ruhigen Runden und möglichst ohne Intervalle, damit der Körper sich an den neuen Bewegungsablauf gewöhnen kann.
Muss ich bei einer Kurbelarmveränderung auch andere Einstellungen anpassen?
Die gekürzten Millimeter an der Kurbel sollte man auf die Sattelhöhe draufgeben, damit der Kniewinkel identisch bleibt. Die Überhöhung wird größer, also die Höhendifferenz vom Sattel zum Lenker. Eventuell sollte dann auch der Lenker etwas höher montiert werden. Der Idealfall ist: Ein Sportler sitzt etwas zu hoch und durch die kürzere Kurbel passen nun automatisch Sitzhöhe und Hüftwinkel. Bei Kurbelarmveränderungen von mehr als fünf Millimetern sollte auch die Lenkerhöhe und der Sattelversatz für die optimale Gewichts- und Druckverteilung überprüft und ggf. angepasst werden. Das ist ein komplexes Zusammenspiel, bei dem ein ganzheitliches Bikefitting sinnvoll ist.
Sollte ich an allen Rädern die gleiche Kurbellänge fahren?
Die Länge der Kurbel muss nicht an jedem Rad im heimischen Keller identisch sein. Je aerodynamischer ich auf dem Rad sitzen will, desto größer ist der Nutzen einer kürzeren Kurbel. Daher ergibt sie in erster Linie am Zeitfahrrad oder auf dem Aero-Renner Sinn. Aber auch im Gelände ist eine kürzere Kurbel nützlich: Denn die Bodenfreiheit steigt, zudem verlagern die meisten Sportler das Gewicht offroad weiter nach vorn, über das Tretlager. Das verkürzt die effektive Sitzhöhe und verengt den Hüftwinkel. Wir haben vor vielen Jahren u. a. mit John Degenkolb und Jasper Stuyven auf Kopfsteinpflaster getestet und gemessen, dass ihr Hüftwinkel auf dem Pavé um drei bis fünf Grad kleiner wird, da sie auf dem Sattel nach vorn rutschen. Wir haben beiden zur kürzeren Kurbel für die Klassiker geraten. In der letzten Rennstunde bei Paris–Roubaix haben sie den Vorteil zu schätzen gewusst. Auch wer bergauf im Sattel tendenziell nach vorn rutscht, kann von einer kürzeren Kurbel profitieren.
Spannende Kurbel von Look
Für diejenigen, die nicht ständig die Kurbelarme wechseln möchten, hat der französische Hersteller Look mit der ZED 3-Monoblockkurbel ein spannendes Produkt in seinem Portfolio. Sie ist in drei Größen zu bekommen und ermöglicht durch eine Kontermutter Kurbelarmlängen von 155 mm bis 175 mm mit 2,5 mm-Sprüngen. Unterschieden wird dabei von Size 1 (155 mm bis 160 mm), Size 2 (162,5 mm bis 167,5 mm) und Size 3 (170 mm bis 175 mm). Wir konnten diese Kurbel bereits am Corratec-Jubiläumsrennrad CCT Evo Ultra fahren. Der Preis der Look ZED 3 ist mit rund 1199 Euro jedoch recht happig.
ROADBIKE-Redakteur Eric Gutglück berichtet: So fühlt sich der Wechsel auf eine kürzere Kurbel an
"Seit dem Frühjahr 2008 fahre ich Rennrad – und das immer und ausnahmslos mit 175-Millimeter-Kurbeln. Kein Wunder – bei 1,94 Meter Körpergröße und entsprechend großen Rahmen kamen sämtliche Räder in dieser Konfiguration. Bei der Recherche zu den Vorteilen einer kürzeren Kurbel und dem Gespräch mit Daniel Schade von Gebiomized wurde ich allerdings neugierig: Mehr Komfort bei mehr Leistung und besserer Aerodynamik – da bin ich doch dabei! Also rüstete ich mein Rennrad auf eine 170-mm-Kurbel um – konkret eine Shimano Ultegra in 11-fach-Ausführung.
Die fünf Millimeter weniger Kurbellänge habe ich lediglich durch eine um fünf Millimeter gesteigerte Sattelhöhe ausgeglichen. Die Cockpithöhe blieb unverändert – schließlich möchte ich ja aerodynamischer sitzen. Und noch eine Änderung: In den Sensoreinstellungen meines Radcomputers korrigierte ich die hinterlegte Kurbelarmlänge des Powermeters – denn der sitzt in den Pedalen und muss für verlässliche Wattwerte an die Kurbelarmlänge angepasst werden. Eine kurze Kalibrierung des Powermeters, dann rollte ich auch schon los.
Schon nach wenigen Metern wude der erste Unterschied deutlich – und der liegt seltsamerweise nicht in einem merklich kleineren Radius, mit dem ich in die Pedale trete. Ehrlich gesagt: Bei einer Blindprobe würde ich vermutlich den Unterschied von fünf Millimetern nicht mal ausmachen können. Vielmehr habe ich das Gefühl im Hüftbeuger als würde ich aufrechter sitzen – was ich aber eindeutig nicht tue, so bestätigt es mir auch der Blick ins nächste Schaufenster. Flacher Rücken, tiefere Position. Doch dadurch, dass Oberschenkel und Oberkörper am oberen Totpunkt weniger verengen, fühlt sich die Position aufrechter bzw. komfortabler an.
Nach mehreren Fahrten mit der kürzeren Kurbel fällt mir zudem auf: Ich schaffe es nun, eine konstante Leistung bei etwas höherer Kadenz (ca. 95 statt rund 90 Umdrehungen/Minute) zu erbringen – was mir zuvor manchmal etwas schwerfiel, erst recht nach mehreren Stunden im Sattel und bei entsprechender Ermüdung. Ein verlockender Ausblick auf lange Bergtouren oder Radmarathons im Sommer, da die höhere Kadenz weniger muskuläre Ermüdung bedeutet und mich so hoffentlich weniger stark ermüdet.
Klar, die höhere Kadenz mag eine individuelle Angelegenheit sein, die nicht für jede/n Radsportler/in zutreffen bzw. vorteilhaft sein muss. Mich jedoch haben der Wechsel und die ersten Wochen mit der kürzeren Kurbel überzeugt, dass ich auch mein Gravelbike und mein Winterrad auf eine kürzere 170-mm-Kurbel umgerüstet habe. © Bike-X
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