Jeder vierte Erwachsene in Deutschland fühlt sich sehr einsam. Das geht aus dem "Deutschland-Barometer Depression 2023" hervor. Depression und Einsamkeit hängen zwar zusammen, allerdings ist ein Gefühl der Einsamkeit nicht der Anfang der Erkrankung, wie Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, betont.
Ronald aus Leipzig hat einen langen Weg mit Depression hinter sich, der den Haustechniker sogar in die Obdachlosigkeit führte. "Ich hatte mit meinen Kindern einen Urlaub gemacht, kam aus dem Urlaub wieder und merkte, dass ich gar nicht entspannt war. Das Gegenteil war der Fall. Der Kopf ratterte und ich war einfach völlig erschöpft. Da habe ich gemerkt: Mit dir stimmt irgendwas nicht", berichtet er.
Mit der Zeit vermied er den Kontakt zu ihm nahestehenden Menschen immer mehr. "Ich hatte einfach dieses Gefühl, den anderen zur Last zu fallen. Ich hatte auch das Gefühl, mich versteht ja eh keiner."
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Immer mehr diagnostizierte Depressionen
So wie es Roland einst ging, geht es vielen Menschen in Deutschland. Das ist bei der Präsentation des "Deutschland-Barometer Depression 2023" einmal mehr deutlich geworden. Die bundesweit repräsentative Befragung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention zeigt, dass 24 Prozent der Teilnehmenden bereits eine diagnostizierte Depression hatten. 19 Prozent schätzen, eine Depression gehabt zu haben – diese wurde allerdings nicht diagnostiziert. Für die Studie wurden über 5.000 Menschen zwischen 18 und 69 Jahren befragt. Die Umfrage ist repräsentativ für diese Zielgruppe.
Laut Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention, leiden jährlich rund acht Prozent der Erwachsenen in Deutschland unter einer Depression. Damit zählt sie zu den häufigsten Erkrankungen. Bei Frauen wird die Erkrankung doppelt so häufig diagnostiziert wie bei Männern.
Die Zahl der diagnostizierten Depressionen steigt zwar an, für den Psychiater ist das dennoch keine negative Entwicklung - ganz im Gegenteil. Es gebe mittlerweile mehr Menschen, die sich Hilfe holten, sagt er bei einer Pressekonferenz. Die positive Entwicklung zeigt sich vor allem an einem Beispiel, das Hegerl nennt. So gebe es in Deutschland deutlich weniger Suizide: Die Zahl habe sich seit den 1980er-Jahren, verglichen mit dem Jahr 2021, etwa halbiert.
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"Das Gefühl der Einsamkeit ist ein Symptom der Depression und weniger deren Ursache."
Jeder vierte Erwachsene in Deutschland fühlt sich sehr einsam
In der Befragung zeigte sich, dass fast alle (94 Prozent) glauben, Einsamkeit und soziale Isolation seien Auslöser für Depression. Das Gefühl der Einsamkeit ist mit der Erkrankung Depression zwar eng verknüpft, allerdings wird laut Hegerl oft übersehen, "dass Depressionen mehr als eine Reaktion auf schwierige Lebensumstände sind, sondern eine eigenständige Erkrankung. Das Gefühl der Einsamkeit ist ein Symptom der Depression und weniger deren Ursache."
Das erklärt auch, dass jeder vierte Befragte (25 Prozent) angibt, sich sehr einsam zu fühlen. Bei Menschen mit Depression ist es etwa jeder Zweite (53 Prozent). Das liege vor allem am krankheitsbedingten sozialen Rückzug.
Überraschend ist, dass das Gefühl von Einsamkeit unabhängig von der tatsächlichen Zahl der Sozialkontakte ist. So haben 40 Prozent der Befragten zwischen 60 und 69 Jahren keine bis vier Sozialkontakte an einem durchschnittlichen Wochentag. Teilnehmende zwischen 18 und 59 Jahren hatten deutlich mehr soziale Kontakte. Und dennoch berichten lediglich 21 Prozent der älteren Menschen, sich sehr einsam zu fühlen, während es bei den Jüngeren 26 Prozent sind.
Ein Warnzeichen für eine Depression ist es allerdings nicht, wenn man sich mal einsam fühlt, betont Hegerl: "25 Prozent der Menschen haben dieses Gefühl. Vor allem vorübergehend ist das normal. Ich glaube, das gehört zum Menschsein dazu."
Was die Umfrage außerdem zeigt: 86 Prozent haben das Gefühl, dass heute mehr Menschen einsam sind als vor zehn Jahren.
Informationen zur Umfrage
- Für das "Deutschland-Barometer Depression 2023" wurden in diesem Jahr 5.196 Personen zwischen 18 und 69 Jahren befragt, darunter Menschen mit und ohne Depression. Die Befragung wird von der Deutschen Bahn Stiftung gefördert.
Depressive Menschen ziehen sich zurück
"Ich habe ich mich von allen ringsum zurückgezogen. Alle Kontakte vermeiden, am besten keinen treffen und sehen und nur mit sich allein sein. Es war falsch, klar, aber in dem Moment war das meine Lösung", schildert Ronald seine Erfahrung während der Depression.
84 Prozent der Erkrankten berichten in der Umfrage von dem Gefühl, in der Depression wie abgetrennt von der Umwelt zu sein. Und sie grenzen sich auch absichtlich ab, sehnen sich nach Ruhe. 82 Prozent hätten sich in der Krankheit von anderen Menschen zurückgezogen, 76 Prozent hätten auch Hobbys an den Nagel gehängt. Hegerl erklärt: "Sogar im Kreise der Familie oder Freunde haben viele Menschen in der depressiven Krankheitsphase das quälende Gefühl, von Umwelt und Mitmenschen abgeschnitten zu sein. Sie fühlen sich isoliert wie hinter einer Milchglasscheibe und können bei schweren Depressionen keine Liebe oder Verbundenheit empfinden."
Dabei sind Familie und Freunde wichtig für Betroffene. Ein Großteil der Befragten (82 Prozent) wurde bei der Bewältigung ihrer Krankheit unterstützt. Angehörigen rät Hegerl: "Informieren Sie sich über die Erkrankung – denn wer nicht weiß, was eine Depression ist, wird den Rückzug des erkrankten Partners oder Freundes falsch einordnen. Es ist keine Lieblosigkeit, kein 'Sich-gehen-lassen' oder gar böser Wille, sondern Folge der Erkrankung." Wichtig sei dann, Betroffenen bei der Suche nach professioneller Hilfe unter die Arme zu greifen.
"Wenn man eine Depression konsequent behandelt, kann man meist ein sehr gutes Leben führen - trotz dieser schweren Erkrankung."
"Man muss die Depression konsequent behandeln und wir haben gute Behandlungsmöglichkeiten. Wir können den allermeisten Menschen helfen", sagt Hegerl bei der Pressekonferenz. Auch ein Rückfallrisiko könne man mithilfe einer Psychotherapie und Medikamenten um etwa 70 Prozent senken. "Wenn man eine Depression konsequent behandelt, kann man meist ein sehr gutes Leben führen - trotz dieser schweren Erkrankung."
Das bestätigt auch Ronald. "Geholfen hat mir die Unterstützung der deutschen Depressionshilfe und einer Psychologin am Jobcenter Leipzig. Die haben mir die richtigen Wege gewiesen und mir geholfen, in professionelle Hilfe zu kommen und mit der Krankheit umzugehen." Mittlerweile hat er wieder Kontakt zu seinen Kindern, seiner Familie, seinen Freunden.
Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person von Suizid-Gedanken betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge unter der Telefonnummer 0800/1110-111 (Deutschland), 142 (Österreich), 143 (Schweiz).
Hilfsangebote für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.
Verwendete Quellen:
- Pressekonferenz: Vorstellung des Deutschland-Barometer Depression 2023
- Pressemitteilung zum Deutschland-Barometer Depression 2023
Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels wurde berichtet, dass Frauen doppelt so häufig von einer Depression betroffen seien wie Männer. Richtig ist, dass die Erkrankung bei Frauen doppelt so häufig diagnostiziert wird.
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