In Deutschland und anderen europäischen Ländern kursieren Polio-Viren - in welchem Ausmaß, lässt sich bisher nicht sagen. Eine Expertin erwartet zwar keinen größeren Ausbruch in Deutschland, mahnt aber zur Impfung. Die wichtigsten aktuellen Fragen und Antworten zum Thema Polio.

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Der Erreger wurde kürzlich in Abwasserproben in sieben deutschen Städten nachgewiesen - und damit in allen, in denen es derzeit entsprechende Tests gibt, wie es vom Robert-Koch-Institut (RKI) heißt. Neben Düsseldorf, Bonn und Köln sind demnach Hamburg, Mainz, Dresden und München betroffen. Was bedeutet das, Polioviren in Deutschland?

Bisher wurden keine Poliomyelitis-Verdachtsfälle oder -Erkrankungen an das Bundesinstitut übermittelt. Aus den Abwassernachweisen könne nicht sicher geschlossen werden, ob der Erreger hierzulande zirkuliere oder er ausschließlich von Menschen ausgeschieden werde, die sich außerhalb Deutschlands infiziert haben, hieß es.

Es ist dem RKI zufolge jedoch denkbar, dass Menschen hierzulande die Viren weitergeben und – sofern ungeimpft – einzelne von ihnen auch an einer Poliomyelitis erkranken. "Einen größeren Polio-Ausbruch erwarte ich in Deutschland nicht, aber auch jeder einzelne Fall wäre einer zu viel", sagt RKI-Polio-Expertin Sabine Diedrich.

Polio - eine kurze Definition

  • Poliomyelitis, kurz Polio oder auch Kinderlähmung genannt, ist eine Viruserkrankung, die das zentrale Nervensystem angreift. Sie kann zu dauerhaften Lähmungen, zum Beispiel in den Beinen, führen. Allerdings ist bei 5 bis 10 Prozent der Patientinnen und Patienten auch die Atemmuskulatur betroffen. In diesem Fall verläuft Polio tödlich. Polio wird deswegen auch Kinderlähmung genannt, da insbesondere kleine Kinder unter fünf Jahren gefährdet sind, zu erkranken. Übertragen wird der Erreger von Mensch zu Mensch über Schmierinfektionen.
  • Behandlung und Vorbeugung: Gegen Polio gibt es keine Medikamente, der Krankheit kann nur durch eine Impfung vorgebeugt werden. Es gibt zwei Impfstoffe, einen oralen Lebendimpfstoff und einen inaktivierten. Die Schluckimpfung ist kostengünstig und kann schnell und einfach verabreicht werden. Der inaktivierte Impfstoff wird mit einer Spritze injiziert.

Muss ich etwas tun?

Die Wahrscheinlichkeit einer Infektion sei äußerst gering und die Konsequenz einer Infektion - sofern man geimpft ist - vernachlässigbar, erklärt der Berliner Virologe Christian Drosten. Spezielle Vorsichtsmaßnahmen seien daher nicht notwendig, allerdings solle man seinen Impfschutz prüfen oder vom Hausarzt prüfen lassen.

Die Impfquoten in Deutschland insgesamt seien zwar nicht schlecht, regional aber recht unterschiedlich, sagt RKI-Expertin Diedrich. Außerdem würden Kinder oft zu spät geimpft. "Daher ist es jetzt besonders wichtig, einen Blick in den Impfausweis zu werfen und fehlende Impfungen nachzuholen."

Wie schlimm ist Polio?

Der Erreger ist hochansteckend und wird über Schmierinfektionen, verunreinigtes Wasser oder Lebensmittel übertragen. Erste Symptome sind Fieber, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Erbrechen, Nackensteifigkeit und Gliederschmerzen. Eine von 200 Infektionen führt dem RKI zufolge bei fehlendem Immunschutz zu irreversiblen Lähmungen, meist in den Beinen. Von den Betroffenen sterben fünf bis zehn Prozent, weil ihre Atemmuskulatur gelähmt wird. Eine Heilung von Polio ist nach wie vor nicht möglich.

"Eine der schrecklichsten Erkrankungen der Menschheit."

Virologe Christian Drosten über Polio

Großangelegte Impfprogramme haben die Krankheit in den meisten Gebieten der Welt ausgerottet. Weltweit können der WHO zufolge geschätzt rund 20 Millionen Menschen dank der Impfung gehen, die andernfalls durch Polio gelähmt gewesen wären - und mehr als 1,5 Millionen Menschen leben noch, die andernfalls gestorben wären.

Gab es Polio auch in Deutschland?

Nur ältere Menschen können sich noch daran erinnern, wie die auch Kinderlähmung genannte Viruskrankheit hierzulande einst zuschlug - mit Tausenden Erkrankten und Hunderten Todesfällen jährlich. Es sei "eine der schrecklichsten Erkrankungen der Menschheit", sagt Drosten, Direktor des Instituts für Virologie der Charité Berlin.

Nach Angaben der europäischen Gesundheitsbehörde ECDC war Polio eine der Hauptursachen für Todesfälle, akute Lähmungen und lebenslange Behinderungen - bis die Impfungen starteten. Die letzte in Deutschland erworbene Poliomyelitis-Erkrankung durch Wildviren wurde 1990 erfasst.

In Zusammenhang mit dem zunächst verwendeten Lebendimpfstoff (OPV, Schluckimpfstoff) kam es dem RKI zufolge noch zu ein bis zwei Impf-Polio-Fällen in Deutschland jährlich. Seit 1998 wird hierzulande ausschließlich inaktivierter Polioimpfstoff (IPV) verwendet, bei dem solche Erkrankungen nicht möglich sind.

Was für ein Virus wurde nun nachgewiesen?

Bei den gefundenen Erregern handelt es sich nicht um den Wildtyp des Poliovirus, sondern um eine auf Schluckimpfungen zurückgehende Variante. Experten zufolge ist sie wahrscheinlich nicht harmloser als der Wildtyp. Abgeschwächte Polioviren mutierten recht schnell wieder zum virulenten Typ, erklärt Diedrich, Leiterin des Nationalen Referenzzentrums für Poliomyelitis und Enteroviren. "Viren, die einige Tage nach Verabreichung der Schluckimpfung ausgeschieden werden, können bei engen Kontaktpersonen bereits Lähmungen verursachen."

Vor allem in Afrika kommt es noch regelmäßig zu Ausbrüchen durch solche Impfstoff-abgeleiteten Polioviren. Bei der massenhaften Vermehrung in den Darmzellen - das Virus wird bis zu sechs Wochen über den Stuhlgang in großen Mengen ausgeschieden - können Rückmutationen stattfinden, die wieder zu krankmachendem Virus führen können, wie der Virologe Thomas Mertens erklärt. Sehr selten der Impfling selbst, etwas häufiger infizierte Kontaktpersonen könnten dann an sogenannter Impf-Polio erkranken.

Woher stammt die gefundene Variante und wer ist gefährdet?

Die auch in Polen und Spanien nachgewiesene, cVDPV2 genannte Variante stammt nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ursprünglich aus Nigeria, wo sie seit etwa 2020 kursiert. Seither hat sie sich auf andere Regionen vorwiegend in Afrika ausgebreitet, wie Diedrich sagt - und wurde auch nach Europa eingeschleppt, wie nun klar ist.

Polioviren vermehren sich nicht eigenständig in Abwasser. An den Fundorten müsse es Menschen geben, die cVDPV2 ausscheiden und an andere Personen weitergeben könnten, erklärt Drosten. Auch Geimpfte können sich demnach anstecken, entwickeln aber keine Symptome. "Gefährdet sind Ungeimpfte und Personen mit schwerem Immundefekt."

Der Name Kinderlähmung führt dabei in die Irre, wie Mertens erklärt: Menschen jeden Alters ohne Immunschutz können erkranken. Der Name entstand, weil der Erreger einst so verbreitet war, dass die Infektion meist schon im Kindesalter erfolgte. Lähmungen seien bei sehr kleinen Kindern viel seltener als bei älteren Kindern und Erwachsenen.

Wie wird in Deutschland geimpft?

Die Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) sieht eine Grundimmunisierung mit drei Impfstoffdosen im Alter von 2, 4 und 11 Monaten vor. Eine einmalige Auffrischimpfung ist im Alter von 9 bis 16 Jahren vorgesehen. Für bestimmte Risikogebiete im Ausland kann zudem eine Auffrischung nach zehn Jahren sinnvoll sein. Die Impfquote liegt dem RKI zufolge im bundesweiten Mittel bei etwa 90 Prozent.

Besonders niedrig ist die Quote in Baden-Württemberg: Im Jahr 2019 geborene Zweijährige waren dort nach RKI-Daten nur zu knapp 72 Prozent geimpft. Generell würden Kinder häufig zu spät geimpft, warnt Mertens, ehemaliger Direktor des Instituts für Virologie der Universität Ulm und früherer Stiko-Chef. Dadurch werde die Zahl ungeschützter kleiner Kinder vergrößert.

Warum wird nicht überall inaktivierter Impfstoff verwendet?

Ursache ist vor allem eine Eigenheit der inaktivierten Polio-Impfstoffe: Sie verhindern zwar Erkrankungen sehr gut, nicht aber eine Infektion und die Weitergabe des Erregers. In der Folge kann das Virus unbemerkt weite Kreise ziehen.

Vor allem in Afrika und Asien wird darum noch verbreitet auf die Schluckimpfung gesetzt, die auch vor Ansteckung und damit vor einer großflächigen Weitergabe schützt. Sie ist zudem preiswerter als der inaktivierte Impfstoff und schützt nicht allein die geimpfte Person wie beim IPV-Impfstoff, sondern kann auf weitere Personen im Umfeld übertragen werden - wodurch diese quasi mitgeimpft werden.

Gerade in entlegenen Gebieten könnten Kinder nicht mehrmals zur Impfung gebracht werden und es würden auch nie alle Kinder geimpft, erklärt Drosten. Wenn man in einem Dorf einen Teil der Kinder mit der Schluckimpfung versorge, gäben sie das Virus beim Spielen an die ungeimpften Kinder weiter. Diese würden so mitgeimpft, auch wenn sie den Besuch des Impfarztes im Dorf verpassten.

Das sehr geringe Risiko eines Impf-Polio-Falls wird dabei zugunsten einer großflächigen Immunisierung der Bevölkerung in Kauf genommen. Künftig könnte es noch niedriger ausfallen: In der Fachzeitschrift "Vaccines" vorgestellte Daten zu einem neuen oralen Polio-Impfstoff zeigen eine verringerte Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von cVDPV2-Varianten.

Wie ungewöhnlich ist ein Nachweis wie in Deutschland?

Üblicherweise kursieren auf die Schluckimpfung zurückgehende Viren in Regionen, in denen diese verwendet wird. Im Jahr 2022 wurden solche Erreger aber zum Beispiel auch im Bundesstaat New York und in London nachgewiesen. Der Bundesstaat New York rief den Katastrophenfall aus. Ein junger Mann im an New York grenzenden Bezirk Rockland erlitt Lähmungen. Eine Person mit den für Polio typischen irreversiblen Lähmungen kann Hunderte Infizierte ohne Symptome in der Region bedeuten, wenn man bedenkt, dass nur einer auf 200 Infizierte erkrankt. In London wurden keine Erkrankungen bekannt.

Klar muss allerdings sein, dass man ein Virus nur finden kann, wenn man es sucht - Experten hielten schon damals für wahrscheinlich, dass auf Schluckimpfstoffe zurückgehende Polioviren auch in anderen westlichen Ländern kursieren. Im Zuge der Corona-Pandemie wurden dann vermehrt Abwassertestungen eingeführt. "Bisher ist der Nachweis solcher Infektionen selten gewesen, durch die zunehmende Abwassertestung fallen diese heute aber zunehmend auf", erklärt Drosten.

Werde das Virus über längere Zeit immer wieder nachgewiesen, könne das nicht auf einen einzelnen Infizierten zurückgehen, da dessen Ausscheidung nach etwa sechs Wochen endet, sagt Mertens. Entweder werde der Erreger dann immer wieder aufs Neue eingetragen oder - und das sei wahrscheinlicher - zirkuliere in der Bevölkerung des Einzugsgebiets der jeweiligen Kläranlage.

Was passiert in solchen Fällen?

"Wichtig ist in der gegenwärtigen Situation, eine lokale Zirkulation im Land zu verhindern", sagt Diedrich. Ein erster Schritt ist, über Kampagnen und Information Impflücken in der Bevölkerung zu schließen. Kommt es dennoch zu Erkrankungen oder gar einem größeren Ausbruch, können Gesundheitsbehörden den zeitweisen Einsatz von Schluckimpfungen in Erwägung ziehen. Israel nutzt seit Jahren wieder Lebendimpfstoffe, bei Ungeimpften wurden seither mehrere Fälle von Impf-Polio erfasst. Auch in der Ukraine kamen nach RKI-Angaben zeitweise ergänzend Schluckimpfungen zum Einsatz.

"Man weiß aber auch, dass man mit inaktivierten Impfstoffen ein solches Geschehen ebenfalls kontrollieren kann", sagt Ole Wichmann, Leiter des Fachgebiets Impfprävention beim RKI. "In der konkreten Situation, wie sie derzeit in Deutschland besteht, wird es das vorrangige Ziel sein, bestehende Impflücken mit Polio-Totimpfstoffen zu schließen. Wir sehen derzeit keinen Anlass, wieder zur Schluckimpfung überzugehen."

Scheitert die Welt an den letzten 0,1 Prozent?

Der einzige Wirt, in dem sich Polio-Viren vermehren können, ist der Mensch, wie Mertens betont. Das bedeutet, dass sich der Erreger nicht bei Tieren "verstecken" könnte, bekäme man ihn aus der Weltbevölkerung gänzlich ausgemerzt. Das ist mit Impfkampagnen schon einmal gelungen: bei den Pockenviren des Menschen, die seit 1980 als ausgerottet gelten.

Auch bei Polio war man schon ganz nah dran: Die Zahl der Fälle von Polio-Wildviren sank nach WHO-Daten um 99 Prozent - von 350.000 im Jahr 1988 auf etwa 400 im Jahr 2013. Von den drei Stämmen des Polio-Wildvirus wurden Typ 2 im Jahr 1999 und Typ 3 im Jahr 2020 ausgerottet. Das Polio-Wildvirus vom Typ 1 zirkuliert fast nur noch in Pakistan und Afghanistan. "Gelingt es nicht, Polio in diesen letzten verbliebenen Hochburgen auszurotten, könnte die Krankheit lokal wieder aufflammen", warnt die WHO.

Nur die letzten 0,1 Prozent der Polio-Fälle gelte es noch auszumerzen, heißt es bei der Global Polio Eradication Initiative. Doch die Impfquoten erreichten bisher nicht in allen Regionen die für eine Ausrottung nötigen mindestens 95 Prozent. Teils sanken sie sogar wieder.

Im Jahr 2014 erklärte die WHO eine Gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite bei der Kinderlähmung, die bis heute gilt. Ein hinzugekommenes Problem ist, dass Routine-Impfungen wie die gegen Polio in den Pandemie-Jahren in vielen Ländern unterbrochen wurden, und auch in Kriegs- und Krisengebieten. Dadurch stieg das Risiko, dass Polio sich wieder ausbreitet. (dpa/bearbeitet von tar)

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