Eckart von Hirschhausen hat kürzlich in einer TV-Sendung eine ADHS-Diagnose erhalten. Auch der Stand-Up-Comedian Felix Lobrecht erhielt seine Diagnose erst als Erwachsener. Hier finden Sie die Antworten zu den häufigsten Fragen rund um die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung ADHS im Erwachsenenalter.
Was ist ADHS und wie häufig kommt es vor?
"ADHS ist eine häufige, früh beginnende, neuropsychiatrische Erkrankung, die meist im Kindesalter beginnt" sagt Andreas Reif, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie. Die Krankheit ist von Konzentrationsstörungen und Aufmerksamkeitsdefiziten, impulsivem Verhalten und Stimmungsschwankungen gekennzeichnet. "ADHS kann zu Beschwerden und Störungen im Leben führen zum Beispiel in der Schule oder später am Arbeitsplatz und hat dann auch einen Krankheitswert."
Welche Ursachen hat ADHS?
"Die Krankheit hat eine hohe genetische Beteiligung, das wissen wir", so Reif. "Es ist eine der psychischen Erkrankungen, mit der höchsten genetischen Basis, die wir kennen. Es gibt da auch nicht nur ein Gen, sondern eine große Menge an genetischen Varianten in der Erbinformation DNA. Einzeln für sich genommen bringen diese nur kleine Risikoerhöhungen mit sich. Wenn aber viele von ihnen zusammenkommen, hat man doch ein deutlich höheres Risiko für ADHS. Haben die Eltern ADHS, ist das Risiko für die Kinder um 10-20 Prozent höher."
Dazu addieren sich Umweltrisikofaktoren, zum Beispiel Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen sowie Schädel-Hirntraumata im frühen Kindesalter. Es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, die das Risiko noch erhöhen, sie spielen wahrscheinlich mit der Genetik zusammen.
Welche Anzeichen deuten auf ADHS hin, wann sollte man einen Facharzt aufsuchen?
Einen Psychiater oder Psychologen sollten Menschen aufsuchen, die merken, dass sie immer wieder wegen ihrer Symptomatik anecken oder in Schwierigkeiten geraten. "Wenn ich wegen Impulsivität, Unzuverlässigkeit oder Unpünktlichkeit Probleme am Arbeitsplatz und in der Partnerschaft bekomme. Wenn ich mit Aufgaben nicht zurechtkomme, immer wieder Dinge verliere und vergesse. Wenn ich impulsiv mit Sachen herausplatze, die ich eigentlich gar nicht sagen will und damit anecke, weil ich mit nicht unter Kontrolle habe, sind das Situationen, in denen viele ADHS-Patienten im Alltag scheitern können und sich Hilfe suchen sollten", so Reif.
Wie wird die Diagnose ADHS gestellt?
"Es wird empfohlen, dass die Diagnose von einem fachkundigen Psychiater, Kinder- und Jugendpsychiater oder Psychologen gestellt wird. Auf jeden Fall sollte es jemand sein, der auf dem Gebiet Erfahrung hat", betont der Facharzt für Psychiatrie und Psychologie. Bei ADHS handelt es sich um eine sogenannte klinische Diagnose. Das bedeutet, es gibt keine technische Untersuchung wie ein Röntgenbild oder ähnliches. Stattdessen beruht die Diagnose auf der sorgfältigen Anamnese, der Befragung vom Patienten und Angehörigen sowie auf der Auswertung von speziellen Fragebögen.
Bei erwachsenen Patienten erhebt der Psychologe oder Psychiater die Vorgeschichte. Zudem werden die Diagnosekriterien abgefragt und bewertet. Dafür gibt es verschiedene Skalen und Fragebögen sowie strukturierte Interviews. Schulzeugnisse werden ebenfalls angeschaut. Zudem werden andere Erkrankungen ausgeschlossen.
Wird ADHS heute zu häufig diagnostiziert?
"Die Erkrankung ist schon von 300 Jahren beschrieben worden. Dazu gibt es gute klinische Beschreibungen von den Erstentdeckern", weiß Andreas Reif. "Man muss aber sagen, das ADHS-Patienten in unserer heutigen Welt etwas häufiger auffallen. Ihnen wird es immer schwerer gemacht, mit ihrer Krankheit zurecht zu kommen." Heute haben wir zum Beispiel eine immer höhere kognitive Last in unserer Arbeitstätigkeit. Früher auf dem Bauernhof ist ADHS hingegen weniger aufgefallen.
"Häufig wird allerdings fehlinterpretiert, dass die Umgebung die Menschen krank macht", so der Psychiater. "Das ist nicht so. Die Umgebung hat da relativ wenig Einfluss drauf. Aber in einer bestimmten Umgebung kommt man mit dieser Erkrankung schlechter zurecht. Deswegen nimmt man es heute vielleicht mehr wahr. Es ist eher eine Zunahme der Wahrnehmung als eine der Erkrankung an sich."
Generell wird ADHS aus Sicht des Experten aber auch heute nicht zu häufig diagnostiziert: "Wenn wir uns die Zahlen an ADHS-Diagnosen der Krankenkassen ansehen, ist das um den Faktor 100 bis 1000 zu niedrig im Vergleich zu dem, was man nach Studienlage erwarten sollte. Wir haben in der Allgemeinbevölkerung eine Häufigkeit von ADHS im Erwachsenenalter, die zwischen zwei und drei Prozent liegt. Davon sind nur zwischen ein und 0,1 Prozent der Patienten diagnostiziert. Da kann man überhaupt nicht sagen, dass zu häufig diagnostiziert wird, eher zu selten."
Worin besteht die Gefahr bei unbehandeltem ADHS?
"ADHS geht mit einer großen Reihe an negativen Folgen einher", sagt der Experte. "Unbehandelte Patienten haben ein höheres Risiko für Unfälle, auch für tödliche. Sie haben ein höheres Risiko für Suizid. Dadurch ist die Sterblichkeit um das Zwei- bis Fünffache erhöht. Auch bringt ADHS ein höheres Risiko für fast alle psychischen Erkrankungen mit sich, insbesondere für Depressionen und Suchterkrankungen. Wir haben auch ein höheres Risiko für Scheidungen und vor allem für ein generell ungut verlaufendes Leben."
Die Patienten haben häufig Probleme im Job, werden gekündigt, sind impulsiv und tun Dinge, die sie hinterher bereuen. "Wir erleben ganz häufig, dass Patienten, wenn sie erst einmal diagnostiziert und behandelt sind, sagen: 'Wäre mir das 20 Jahre früher passiert, wäre mein Leben ganz anders verlaufen und zwar viel besser.'" Diese Erfahrung machte kürzlich auch
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Helfen Medikamente gegen ADHS und welche Nebenwirkungen gibt es?
"Die Kernsymptomatik des ADHS, die Impulsivität und das Aufmerksamkeitsdefizit wird nur durch die medikamentöse Behandlung tatsächlich besser", weiß Andreas Reif. "Da gibt es nichts anderes mit vergleichbar großer Wirksamkeit. Die Wirkstoffe sind überwiegend Stimulanzien, zum Beispiel Methylphenidat, das als Ritalin bekannt ist. Aber auch Amphetamin und seine Abkömmlinge gehören in diese Gruppe. Sie alle sind strukturverwandt und wirkungsähnlich.
"Dann gibt es noch eine kleine Gruppe von Nicht-Stimulanzien wie Atomoxetin oder Guanfacin. Sie sind von ihrer Wirkungsweise aber nicht ganz so effektiv wie Ritalin und die ihm verwandten Wirkstoffe", weiß Reif und empfiehlt: "Die allererste Frage, die man mit Patienten immer besprechen sollte, ist, ob das ADHS tatsächlich eine Belastung ist und zu Problemen im Alltag führt, die man behandelt haben möchte."
Bei einigen Patienten sei die Krankheit zwar im Leben und erklärt vieles, ist dabei aber nicht so störend, dass Medikamente regelmäßig eingenommen werden müssen. "Nicht in jeder Situation ist das ADHS unbedingt behandlungsbedürftig. Es gibt auch verschiedene Schweregrade. Wenn ich dann aber die Entscheidung zu einer Medikation getroffen habe, dann würde ich immer zuerst zu einem Stimulanz greifen wie Methylphenidat oder Lisdexamphetamin, da diese Medikamente die beste Wirksamkeit aufweisen. "
Welche Nebenwirkungen treten bei ADHS-Medikamenten häufig auf?
Relativ häufig sind Nebenwirkungen auf den Schlaf, wenn man die Medikamente zu spät nimmt. Das liegt daran, dass es sich um Substanzen handelt, die wach machen. Auch kann der Appetit abnehmen. "Viele Patienten berichten zudem über eine gewisse emotionale Abstumpfung. Das tritt vor allem auf, wenn man die Dosierung zu hoch setzt", so Reif. Auch innere Unruhe könnte auftreten. "Abgesehen davon sind das aber sehr gut verträgliche Medikamente und die Nebenwirkungen treten nur auf, wenn man das Medikament einnimmt. Setzt man es ab, sind auch die Nebenwirkungen wieder weg."
Welche Maßnahmen können die ADHS-Therapie mit Medikamenten ergänzen?
Neben den Medikamenten profitieren viele Patienten von anderen Maßnahmen wie Psychotherapie. "Ich muss den Patienten immer gut über die Erkrankung aufklären, deshalb ist auch Psychoedukation ein wichtiger Baustein", betont der Psychiater. "Unterstützend können Sport und Entspannungstechniken helfen. Dafür, dass Sport alleine die Krankheit therapiert gibt es allerdings kaum Evidenz. Für alternative Behandlungsweisen ist die Studienlage sehr viel schlechter als für die Medikamente." Im Kindesalter kommt Elterntraining hinzu. Darin lernen Mütter und Väter die ADHS zu verstehen und entsprechend mit dem Kind umzugehen.
Ist ADHS heilbar und wie entwickelt sich die Krankheit im Laufe des Lebens?
"Es gibt ganz unterschiedliche Verläufe", so Reif." Wir wissen, dass die Häufigkeit von ADHS über das Leben hinweg abnimmt. Sie wird nicht null, aber nimmt kontinuierlich ab. Jugendliche heilen hinsichtlich der Symptomatik nicht selten aus und werden gesund." Ungefähr ein Drittel der betroffenen Kinder und Jugendlichen hat als Erwachsene keine Symptome mehr. Die anderen zwei Drittel haben noch Symptome, aber in unterschiedlichen Ausprägungen. Das kann das gesamte Krankheitsbild sein, das können aber auch nur noch Teile davon sein.
"Der individuelle Verlauf kann für Patienten also sehr unterschiedlich sein. Auch verändern sich die Anforderungen und die Umgebung im Laufe des Lebens", sagt der Experte. Zum Beispiel könne das ADHS im Urlaub weniger belastend sein so dass das Medikament in dieser Zeit abgesetzt werden könne. Per Definition ist ADHS mit dem Alter eine chronische Erkrankung. Es gibt aber immer wieder Patienten, bei denen es gelingt, nach einiger Zeit das Medikament wieder abzusetzen.
Gibt es Auffälligkeiten und Krankheitsbilder, von denen ADHS abzugrenzen ist?
"Im psychiatrischen Bereich sind das unter anderem die bipolare Störung und die Borderline-Persönlichkeitsstörung", so der Experte. Beide könnten mit ADHS verwechselt werden, aber auch in Kombination mit der Erkrankung auftreten. "Man muss genau hinschauen um zu erkennen: Gibt es eine Überlappung oder ist es vielleicht doch die andere Erkrankung? Manchmal können auch Suchterkrankungen die Diagnose deutlich erschweren", sagt Andreas Reif.
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