Egal, wie gut oder schlecht die eigene Kindheit war: Man wird später im Leben immer Probleme haben, die sich auf die frühen Jahre zurückführen lassen. Mentalcoach Bruno Hambüchen erklärt im Interview, warum das so ist und wie wir mit unseren Erfahrungen richtig umzugehen lernen.
Bruno Hambüchen ist Psychotherapeut und einer der bekanntesten Mentalcoaches in Deutschland. Er war es, der seinem Neffen
Durch Gespräche und Mentaltrainings ließen sich Blockaden im Kopf lösen, die den jungen Turner auf dem Weg zum Ziel eingeschränkt hatten - eine Situation, wie sie nicht nur Profisportler kennen, sondern auch "Normalsterbliche". Selbstzweifel, innerer Druck oder auch Verunsicherung manövrieren einen in Szenarien, in denen man sich unwohl und missverstanden fühlt.
Eine perfekte Kindheit? Gibt es nicht.
Wer einen Ausweg aus dieser Lage finden will, muss sich mit sich selbst auseinandersetzen. Denn: Viele wiederkehrende Probleme, mit denen wir uns plagen, sind in frühen Phasen unseres Lebens verankert, an die wir uns oftmals kaum mehr erinnern können. Im Interview erklärt Bruno Hambüchen, warum wir in manchen Situationen energischer reagieren als es uns lieb ist und warum es so etwas wie eine ideale Kindheit nicht gibt.
Herr Hambüchen, woran erkennt man, dass einem Emotionen aus der Vergangenheit noch heute zu schaffen machen?
Bruno Hambüchen: Wenn Sie immer wieder in eine Situation geraten, in der Sie sich fragen, warum Sie jedes Mal auf eine ganz bestimmte Art reagieren - etwa mit hoher Intensität oder besonders unterkühlt -, dann ist das bereits ein erster Anhaltspunkt, da Sie die Eigenart Ihrer eigenen emotionalen Reaktion in diesem Moment selbst nicht richtig zuordnen können.
Genau dann lohnt es sich zu fragen: Woher kommt Ihnen das bekannt vor? Wie lange könnte das schon her sein, und wie alt waren Sie da möglicherweise? Welche Szenen laufen währenddessen in Ihrem Kopf ab? Wenn um Sie herum gerade eine gute Atmosphäre herrscht und kein Druck da ist, kommen Erinnerungen oft schnell zurück. Mit diesen Erinnerungen kann man recht gut arbeiten, indem man hineingeht in diese Bilder und schaut, was da überhaupt abgelaufen ist.
Haben Sie ein Beispiel aus der Praxis für uns?
Stellen Sie es sich in der praktischen Arbeit folgendermaßen vor: Jemand schildert mir, dass er in einer Situation plötzlich unglaublich wütend reagiert hat oder weinen musste. Er kann sich selbst nicht recht erklären, warum seine Reaktion so ausgefallen ist. Dann ist die erste wichtige Frage: Worum ging es in dem jeweiligen Gespräch?
Dann folgt irgendein Thema und Sie wissen danach, was der sachliche Inhalt der Unterhaltung war. Für die emotionale Reaktion ist aber meist viel wichtiger, in welcher Art und Weise im Gespräch mit Ihnen umgegangen wurde. Worum ging es auf der seelischen Ebene also wirklich? Hat die andere Seite womöglich ständig versucht, Sie unter den Tisch zu quatschen oder Sie zu bevormunden? Wie genau lief die Konversation ab? Für mich als Mentalcoach ist es nicht wichtig, um was es in der Sache ging, sondern wie das Gespräch ablief.
Der Ursprung einer intensiven Gefühlsregung liegt also vor allem daran, in welchem Rahmen die Diskussion stattgefunden hat und welche Emotionen dabei hervorgerufen wurden?
Damit hängt es meistens zusammen. Fühlt sich jemand bevormundet, entsteht der Eindruck, als würde die eigene Meinung nicht zählen. Wenn mir mein Klient diesen Eindruck bestätigen kann, frage ich weiter, ob ihm das vielleicht aus irgendeiner anderen Phase seines Lebens bekannt vorkommt. Gibt man den Leuten nur zwei Minuten Zeit, intensiv darüber nachzudenken, kommt meist schon eine brauchbare weiterführende Information: "Ja, das habe ich in der Schule kennengelernt" oder "das habe ich als Kind oft in der Familie erlebt".
Ist diese Erinnerung an damals erst mal da, arbeitet man die Thematik rückwärts auf und kommt recht schnell in Situationen aus der Vergangenheit, die man sich genauer anschauen kann. Auch hier geht es wieder nicht so sehr um den sachlichen Inhalt einer Szene, sondern um die Art und Weise, wie miteinander umgegangen wurde.
Wenn jemand über einen langen Zeitraum hinweg bevormundet wurde, so dass seine Bedürfnisse gar nicht zum Tragen gekommen sind, wird die Seele traurig oder wütend und merkt sich das. Nach dem Motto: "Aufpassen, wenn sich so etwas wieder anbahnt, dann nichts wie weg." Deshalb reagiert sie, die Seele, später besonders unterkühlt und mit Abstand oder eben sehr intensiv. Das heißt, sie wird von der Gegenwartssituation plus der Erinnerung an die Vergangenheit geladen.
Gibt es denn so etwas wie eine "normale" Reaktion auf Situationen überhaupt?
Man tut gern so, als gäbe es eine Normalität. Tatsächlich ist es so, dass jeder Mensch schauen muss, dass er sich nach innen wie nach außen immer wieder in Balance bringt.
Deutlich wird das am Beispiel einer Ehe: Sagen wir mal, die Frau ist besonders emotional und bringt ihre Gefühle sehr schnell und intensiv zum Ausdruck. Der Mann hingegen ist in einer Familie groß geworden, in der es rein um Leistung geht. Er wurde sehr erfolgreich, hat meist gelernt, sich nicht von Emotionen ablenken zu lassen. Wenn die beiden über Probleme ihres Sohnes mit einem Lehrer in der Schule reden, dann ahnen Sie bestimmt schon, was dabei passiert. Das gehört vielfach einfach zum Alltag.
Dann aber tritt die Situation ein, dass das Unternehmen des Mannes ins Schlingern gerät und Insolvenz anmelden muss. Die Frau geht daraufhin in die Angst und die Traurigkeit und äußert sie auch, während der Mann keinerlei Emotionen zeigt – weder Angst noch Betroffenheit. Zu Recht ist die Frau irritiert, zumal der Mann kaum auf seine Frau eingeht, sondern sie eher beschwichtigt oder das Gespräch abbricht, weil er so etwas wie Traurigkeit nicht an sich heranlässt. Er will sich auf das konzentrieren, was zu tun ist.
Was ist in diesem Fall normal? Die Emotionalität der Frau oder die Unterkühltheit des Mannes? Das Beispiel zeigt: Es ist immer eine Mixtur aus der veranlagten Individualität, der Persönlichkeitsstruktur und all den Erfahrungen, die wir mit uns selbst und unserem Umfeld von Kindheit an gemacht haben. Aber auch der Ort, in den wir hineingeboren werden, unsere Familie spielt eine Rolle. Jeder versucht auf seine Art, mit sich und der Situation klar zu kommen.
Wie genau müssen wir uns diesen Mix vorstellen?
Ein Säugling bringt von Geburt an seinen eigenen Charakter mit, alles andere muss er lernen. Das Meiste von dem, was der Mensch kann, ist Erlerntes. Und genau da wird es spannend: Von welchen Leuten lernen wir was? Wie ist die Familienkonstellation? Gibt es große, kleine oder gar keine Geschwister? Bin ich der Kleine in der Familie, kann ich mir viel von den Älteren abschauen. Bin ich der Große, bin ich vom Kleinen oftmals genau deshalb genervt.
Bin ich ein Einzelkind und auf mich allein gestellt, sieht es wieder anders aus: Streiten die Eltern viel, rutscht das Einzelkind schnell in eine Vermittlerrolle zwischen den beiden Parteien und muss lernen, allein damit zurechtzukommen. Lieben sich die Eltern und sind mit einem engen Band verbunden, bekommt das Kind ein anderes Problem: Es muss irgendwie seinen Platz in diesem Miteinander finden und dafür sorgen, dass es von den Eltern ausreichend registriert wird.
Wie müsste man ein Kind also erziehen, dass es als Erwachsener so gut wie möglich zurechtkommt?
Ein ideales Großwerden auf diesem Planeten gibt es nur in der Theorie, nicht in der Praxis. Wir müssen uns alle irgendwie durchschlagen, und wir nehmen diese Erfahrungen mit in unser gegenwärtiges und zukünftiges Leben und Erleben.
Das heißt aber nicht, dass, wenn wir später auf eigenen Beinen stehen, einen Beruf haben und vielleicht eine eigene Familie, wir die gleichen Erfahrungen machen wie damals in unseren Jahren als Kind. Nach dem Motto: "Glückliche Kindheit, glückliches Leben".
Selbst dann, wenn jemand eine tolle Kindheit hatte und alles glatt gelaufen ist, ist es beinahe garantiert, dass dieser Mensch später Probleme haben wird im Leben. Denn wenn es im Berufsleben oder in seiner eigenen Familie nicht so läuft, wie er es früher gewohnt war, dann begreift der Mensch gar nichts mehr. So etwas hat er noch nie erlebt und muss sich erst auf diese neue Situation einstellen.
Gibt es sowas wie eine perfekte Kindheit denn dann überhaupt?
Nein, eine ideale Kindheit gibt es nicht. Es gibt Kindheiten, die angenehmer oder förderlicher waren als andere. Aber eine Kindheit, mit der man später keine Bewältigungsschwierigkeiten oder andere Probleme bekommt, gibt es nicht. Man lernt in der Kindheit eine Vielzahl unterschiedlicher Bewältigungsmechanismen. So lange diese alten Muster passen und funktionieren, hat der Mensch kaum Probleme. Es geht ihm gut. Wenn aber Situationen eintreten, in denen er mit diesen alten Musterwegen nicht weiterkommt, bekommt er früher oder später sehr wohl ein Problem.
Wie kann man sich am besten für solche Situationen rüsten, damit man von seinen eigenen Gefühlen nicht komplett überrascht oder sogar übermannt wird?
Die Seele ist immer ein Kind. Nicht kindisch, sondern kindlich. Es geht um wichtige seelische Bedürfnisse, wie etwa Lebensfreude. Die Frage ist deshalb: Wie kann sich zwischen Ihnen und Ihrem seelischen Anteil eine freundschaftliche Aufeinanderbezogenheit entwickeln? Wenn Sie sich für eine fürsorglich liebevolle, innere Haltung zur Seele entscheiden, quasi das Sorgerecht für sich selbst übernehmen, verbunden mit Ihrem ganz persönlichen Artenschutzprogramm, kann sich solch eine Beziehung entwickeln.
Wenn diese Beziehung schließlich entwickelt ist und sich eine Szene ereignet, die einem Vorkommnis in der Vergangenheit ähnelt, geht sie mir nicht mehr so sehr unter die Haut. Gefühlswellen von Wut, Angst und Traurigkeit verlieren an Bedrohlichkeit und knallen nicht mehr mit voller Wucht in die Gegenwart. Sie bilden stattdessen eine innere Orientierung.
Es gibt ja aber durchaus Kollegen Ihres Fachs, die der Meinung sind, man könne sich durch eine entsprechende Therapie quasi eine Art späte glückliche Kindheit verschaffen. Was halten Sie von solch einem Ansatz?
Glauben Sie niemandem, der sagt, man könne sich im Nachhinein eine glückliche Kindheit besorgen. Das ist kompletter Blödsinn. Man kann mit den Erfahrungen der Kindheit arbeiten, um herauszufinden, wie die eigene Seele tickt.
Man kann seinen inneren Frieden finden und seine Biografie als seinen individuellen Lebensweg akzeptieren lernen. Damit verändere ich aber nicht meine Biografie, sondern die Erinnerung und Nachwirkungen der Biografie. Dies allerdings kann zu einer deutlich spürbaren Verbesserung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensqualität beitragen.
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