Die deutschen Notaufnahmen sind überfüllt. Patienten müssen lange Wartezeiten in Kauf nehmen, Ärzte sind am Limit. Ein Grund dafür: Immer mehr Menschen kommen in die Notaufnahme, die nur ein Wehwehchen haben. Ein Assistenzarzt (33) für die Innere Medizin und Notfallmedizin, der in einer Klinik im Raum Nürnberg in der Notaufnahme arbeitet, Notarzteinsätze fährt und anonym bleiben möchte, hat mit unserer Redaktion über unmündige Patienten und ein System an der Belastungsgrenze gesprochen.
Immer mehr Patienten begeben sich schon mit Wehwehchen in die Notaufnahme oder rufen den Notarzt. Bringt das die Mediziner an die Belastungsgrenze?
Arzt: Die Aussage, dass immer mehr Menschen in die Notaufnahme kommen, kann ich bestätigen. Dabei steigt die Anzahl der sogenannten banalen Fälle, die eigentlich nicht in die Notaufnahme gehören, gefühlt deutlich. Die Belastungsgrenze ist stellenweise erreicht und die Belastung nimmt zu. Zu Stoßzeiten, wie oft in den Wintermonaten, erschöpfen sich auch nicht selten die räumlichen Kapazitäten.
Haben Sie im Dienst zwischendurch auch mal kurze Verschnaufpausen oder arbeiten Sie am Limit?
In der Klinik sind gerade an den Wochenenden und in den Nachtdiensten Verschnaufpausen selten. Im Notarztdienst außerhalb der Klinik ist dies noch eher möglich, jedoch werden auch hier Pausen seltener. Unterbesetzt sind wir in der Klinik nicht. Gerade aber auf Grund der zunehmenden Zahl an nicht-Notfallpatienten in der Notaufnahme, ist das Arbeiten von Druck geprägt.
Wie viele der Patienten, die täglich und nächtlich in der Notaufnahme betreut werden, sind echte Notfälle?
50-60 Prozent sind wirkliche Notfälle.
Kommen gerade abends, nachts und am Wochenende verstärkt verunsicherte Personen in die Notaufnahme, die gar nichts Schlimmes haben?
Definitiv kommen nach Dienstschluss der Hausärzte besonders viele Patienten in die Notaufnahme. Auch an einem Feiertag und bei Feiertagsblöcken wie Weihnachten und Ostern sind höhere Patientenzahlen typisch.
Können Sie ein paar Beispiele nennen für Wehwehchen, wegen denen Patienten den Notarzt rufen oder die Notaufnahme aufsuchen?
In den Sommermonaten kommen immer wieder Patienten mit ganz normalen Mückenstichen. Selbstverständlich ist es richtig, die Notaufnahme aufzusuchen, wenn ein Stich im Mund vorliegt oder der Patient andere Symptome wie Atemnot entwickelt. In den meisten Fällen handelte es sich aber nur um kleine Rötungen, bei denen auch wir nicht wirklich weiterhelfen können.
Wir hatten auch schon einen Patienten mit Schluckauf, der sich dann auch noch über die lange Wartezeit echauffiert hat. Und manche Menschen suchen die Notaufnahme wegen einer leichten Erkältung auf. Ich sehe mir jeden Patienten an, empfehle in solchen Fällen aber die weitere Behandlung beim Hausarzt.
Vor kurzem kam eine Mutter mit ihrer an Blasenentzündung leidenden Tochter, die auf meine Frage hin, warum sie nicht zum Bereitschaftsarzt mit ihr gefahren sei, antwortete, dass ihre Tochter in der Notaufnahme das Antibiotikum direkt, ohne Rezept, bekommen kann. Das ist eine gezielte Ausnutzung des Systems.
Was denken Sie, sind die Gründe dafür, dass viele zuerst die Notaufnahmen aufsuchen oder den Notarzt rufen, obwohl ein Besuch beim Hausarzt reichen würde?
Die Anspruchshaltung der Patienten nimmt zu. Ich denke, das hat schon mit der Mentalität der Dienstleistungsgesellschaft zu tun, mit dem Anspruch, dass eine Dienstleistung rund um die Uhr verfügbar sein soll. Manchmal begründet ein Patient sein Kommen wegen eines Wehwehchens mit der Aussage "Sie müssen doch sowieso arbeiten". Außerdem wollen viele Patienten Verantwortung abgeben, die Unmündigkeit wird größer. Aber weil sie im Vorfeld gegoogelt haben, fühlen sie sich dennoch häufig besser informiert als der Arzt.
Viele Patienten denken, wir können in der Notaufnahme binnen kurzer Zeit alles behandeln. Dies ist jedoch ein Trugschluss. Nicht selten werden dann drei oder mehr Stunden Wartezeit bei uns in Kauf genommen. Und am nächsten Tag muss der Patient doch zum Hausarzt.
Für die Krankenhäuser ist eine Behandlung in der Notaufnahme zudem auch ein Kostenfaktor. Pro Patient entstehen im Durchschnitt doppelt so hohe Kosten, wie die Krankenhäuser anschließend von den Krankenkassen erstattet bekommen.
Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern? Es kennt ja zum Beispiel kaum jemand die 116 117, die Nummer des kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes.
Die Nummer ist zu unbekannt, das müsste sich ändern, wobei manche durchaus über den Bereitschaftsdienst Bescheid wissen und dennoch lieber in die Notaufnahme wollen. Einen weiteren Ausbau des Bereitschaftsdienstes halte ich für eine sinnvolle Maßnahme. Eine Optimierung der Versorgung in der Notaufnahme mit entsprechendem Personal ist weiter notwendig. Gerade die Anbindung von Bereitschaftspraxen in räumlicher Nähe zur Notaufnahme ist aus meiner Sicht ein Schritt in die richtige Richtung.
Immer wieder wird auch die Forderung laut, die Patienten monetär zu belangen. Dies sehe ich kritisch. Außerdem wird diskutiert, Notfallpatienten, die keine sind, auch abweisen zu dürfen. Mit der ärztlichen Ethik ist das nicht ohne weiteres vereinbar, auch, weil man nicht das Risiko eingehen möchte, jemanden ohne Untersuchung abzuweisen, der vielleicht doch eine ernsthafte Erkrankung hat. Die Position der Hausärzte muss weiter gestärkt werden und sie sollten besser unterstützt werden. Sie stellen die Basis unseres Systems der medizinischen Versorgung in Deutschland dar. Durch immer mehr Verbesserungen auch in der Ausbildung und Ausstattung der Hausarztpraxen, sind diese für die Versorgung optimal. Die Notaufnahme muss den Notfallpatienten vorbehalten sein.
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