Mit dem Begriff "Tourette-Syndrom" verbinden viele Menschen vor allem unkontrolliertes Fluchen. Aber nicht alle Betroffenen benutzen unentwegt Kraftausdrücke.
Beim Tourette-Syndrom handelt es sich um eine Erkrankung des Nervensystems. Sie äußert sich vor allem in unwillkürlichen und oft wiederholten Bewegungen und Lauten oder Worten.
Diese Bewegungen und Äußerungen werden Tics genannt. Die Mehrzahl der Patienten hat zusätzlich eine psychiatrische Begleiterkrankungen, zum Beispiel eine Zwangsstörung, Depression oder ADHS.
In Deutschland leben rund eine halbe Million Menschen mit dem Tourette-Syndrom. Christian Hempel, 45 Jahre alt, ist einer von ihnen. Bei ihm ist die Krankheit sehr stark ausgeprägt: Die Tics reichen von Schreien über Zuckungen bis hin zu ungewollter Selbstverletzung, zum Beispiel wenn der Kopf beim Tic gegen etwas geschlagen wird.
Zu Hempels Tics gehört außerdem die Koprolalie, die in der breiten Öffentlichkeit wohl bekannteste Ausprägung des Tourette-Syndroms. Dabei werden obszöne, beleidigende oder gesellschaftlich nicht akzeptable Worte und Ausdrücke gerufen oder gesagt.
"Beim Tourette wird immer das Unpassendste herausgeschleudert"
"Zum Beispiel 'Heil Hitler' - das ist absolut nicht meine Meinung, aber das kommt beim Tourette so raus, vor allem, wenn es gerade nicht passt", erklärt Hempel. "Oder wenn ich an der Polizei vorbeifahre, dann rufe ich 'Bullenschweine'", sagt Hempel.
"Oder wenn ich auf der Straße jemanden sehe, der besonders dick ist, dann neigt das Tourette dazu, 'fette Sau' zu ticken." Das sei dann problematisch. "Es liegt mir ja fern, diese Person irgendwie zu bezeichnen, aber beim Tourette wird eben immer das Unpassendste herausgeschleudert", beschreibt der 45-Jährige.
Hempel gibt zu bedenken, dass diese Art von Tic bei ihm besonders stark ausgeprägt ist. "Bei vielen Tourette-Betroffenen ist diese Koprolalie ja gar nicht da."
Tatsächlich kommt Koprolalie nur bei 20 bis 30 Prozent aller Tourette-Kranken vor. Eine andere Form von Tics bei stark ausgeprägtem Tourette ist die Kopropraxie, bei der obszöne Gesten ausgeführt werden.
Genaue Ursachen noch nicht bekannt
Kirsten Müller-Vahl ist Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und forscht an der Medizinischen Hochschule Hannover auf dem Gebiet des Tourette-Syndroms. Wie bei vielen anderen Krankheiten gibt es auch beim Tourette-Syndrom verschiedene Schweregrade, erklärt Müller-Vahl.
"Wenn man das Tourette-Syndrom in leichter Form hat, hat man zum Beispiel nur ein Augenblinzeln und Räuspern. Wenn man es in schwerer Ausprägung hat, dann hat man eben Zuckungen in extremer Form am ganzen Körper und laute Schreie", beschreibt Müller-Vahl.
Man könne nur darüber spekulieren, warum es diese Flüche und obszönen Bewegungen zusätzlich gebe. "Wahrscheinlich ist das eine weitere Form der Enthemmung des Gehirns, auch solcher Areale, die für sexualisiertes Verhalten zuständig sind", sagt die Expertin. "Aber das sind Hypothesen, bewiesen ist das nicht."
Auch die genaue Ursache des Tourette-Syndroms ist noch nicht vollständig erforscht. Klar ist jedoch, dass eine Fehlschaltung im Gehirn für die Krankheit mitverantwortlich ist.
Außerdem weiß man, dass das Tourette-Syndrom erblich bedingt ist. Das bedeutet aber nicht, dass jeder Tourette-Betroffene die Krankheit an seine Kinder weitergibt; sie kann durchaus mehrere Generationen überspringen.
Tourette-Syndrom noch nicht komplett heilbar
Ein wirkungsvolles Mittel gegen Tourette gibt es noch nicht, erklärt Professorin Müller-Vahl. "Heilung setzt ja voraus, dass man die Ursache kennt und sie dann behebt. Das ist beim Tourette-Syndrom leider nicht der Fall."
Es gebe Therapien zur Verbesserung der Symptome. Dabei komme es aber nicht zu einer kompletten Heilung.
Zu den Therapie-Möglichkeiten zählen die Einnahme von Medikamenten – meist Psychopharmaka – sowie Psychotherapie. Christian Hempel nimmt seit einigen Jahren ein Medikament gegen das Tourette-Syndrom, mit dem er nach eigenen Worten "halbglücklich" ist.
"Ich nehme das, weil es die Spitzen der Tics etwas reduziert. Aber aufgrund der Nebenwirkungen schränkt es mich auch durchaus ein, was Spaß am Leben und Aktion angeht", beschreibt er. "Da bin ich schon ein bisschen ruhiger geworden."
Tourette-Syndrom schränkt Betroffene ein
Wie in den meisten Fällen, begann das Tourette-Syndrom auch bei Christian Hempel schon im Kindesalter. Heute ist er Mediengestalter und arbeitet von zu Hause aus.
Da seine Tics so heftig sind, schützt er seinen Computer-Bildschirm in einem Kasten mit Kunststoffscheibe und benutzt eine Tastatur aus Edelstahl, die die Schläge aushält, in denen sich seine Tics zum Teil äußern. Das Tourette-Syndrom durchzieht viele Lebensbereiche des 45-Jährigen.
"Viele Dinge kann ich nicht machen. Ich gehe nicht regelmäßig ins Kino oder ins Theater", erklärt Hempel. Glücklich ist er damit nicht: "Eigentlich sollte man dafür einstehen, dass auch Menschen mit Tourette-Syndrom an allen öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen können. Das finde ich total wichtig und gut."
Aber in solchen Situationen komme es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Mitmenschen - "zum Beispiel wenn sie meinen, bei einem Konzert müsste eine hermetische Ruhe herrschen". In letzter Zeit habe er wenig Lust, sich damit auseinanderzusetzen und darum zu kämpfen", sagt Hempel.
Sein Ratschlag im Umgang mit Tourette-Betroffenen: "Menschen sollten möglichst offen damit umgehen. Wenn man vermutet, dass jemand Tourette hat, sollte man denjenigen ansprechen oder signalisieren, dass es in Ordnung ist, wenn derjenige so schreit und zuckt. Ich glaube, das entspannt alle Seiten."
Verwendete Quellen:
- Tourette.de
- Ewgeni Jakubovski, Kirsten R. Müller-Vahl: Gilles de la Tourette-Syndrom: Klinik, Ursachen, Therapie. Thieme, 2017
- Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und Leiterin der Tourette-Sprechstunde an der Medizinischen Hochschule Hannover
- Christian Hempel, Tourette-Betroffener und Redakteur bei Tourette Online
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