Argentinien befindet sich seit annähernd einem halben Jahr im Lockdown, um die Verbreitung des COVID-19-Erregers einzudämmen. Untersuchungen zeigen, dass immer mehr Menschen unter psychischen Erkrankungen leiden. Drogenmissbrauch und Schlafstörungen nehmen ebenfalls deutlich zu. Was macht die monatelange Isolation mit Menschen? Ein Psychologe erklärt die Mechanismen.

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Seit dem 20. März besteht in Argentinien eine strikte Ausgangssperre. Die Menschen dürfen ihre Wohnungen nur aus wichtigem Grund verlassen. Dazu zählen Arbeit, Einkäufe oder der Gang zur nächstgelegenen Apotheke. Das sind inzwischen mehr als 180 Tage, in denen die Regierung mit den strengen Maßnahmen gegen die Verbreitung des COVID-19-Erregers ankämpft.

Das Virus damit in Schach zu halten, ist ihr allerdings bislang nicht gelungen. Die Fallzahlen nehmen seit dem Ausbruch der Pandemie zusehends zu. In den vergangenen Wochen lag die durchschnittliche Zahl der Neuinfektionen bei rund 1.000 Fällen pro Tag. Zuletzt fiel knapp mehr als die Hälfte der durchgeführten Tests positiv aus.

Das scheint ein Problem zu bestätigen, das Beobachter in der argentinischen Anti-Corona-Strategie sehen: Die peronistische Regierung betrachtet den strikten Lockdown als allein hilfreiches Mittel gegen die Verbreitung der Krankheit und hat es darüber unter anderem versäumt, ihre Testkapazitäten auszubauen.

Ein Mittel mit vielen Nebenwirkungen

Doch das Mittel, auf das die argentinische Regierung für die Pandemiebekämpfung setzt, verschärft Probleme an anderen Stellen. Die bereits vor COVID-19 schwer angeschlagene Wirtschaft leidet zusätzlich unter den Maßnahmen. Die andauernde Kontaktsperre und die Existenzsorgen ohne Aussicht auf Besserung schlagen sich nachweislich auf die psychische Verfassung der Bevölkerung nieder.

Während die Argentinier zu Beginn der Pandemie die Regierungsstrategie diszipliniert mitgetragen haben, ist ihr Durchhaltevermögen auch angesichts des ausbleibenden Erfolgs erschöpft. Schlafstörungen und Depressionen haben in der Bevölkerung signifikant zugenommen. Die Menschen konsumieren deutlich mehr Zigaretten, Alkohol, illegale Drogen und Psychopharmaka.

Der Mensch ist ein soziales Wesen

Dass die monatelange Isolation viele Argentinier psychisch belastet, ist laut dem Münchner Diplom-Psychologen Ingo Ostgathe nicht verwunderlich: "Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er hat ein Grundbedürfnis, sich mit anderen Menschen auszutauschen", erklärt er.

Ein weiterer Faktor für die seelische Ausgeglichenheit sei Kohärenz, also ein Sinnempfinden im Leben. Außerdem müsse sich ein Mensch erkennen. "Das können wir nur, indem wir ein Gegenüber haben", sagt Ostgathe. Ohne den zwischenmenschlichen Austausch könnten wir bestimmte Aspekte unserer Persönlichkeit nicht zum Ausdruck bringen.

Wenn Menschen auf diese Faktoren über lange Zeit verzichten müssen, entsteht laut dem Psychologen eine extreme Unzufriedenheit. Diese münde zunächst in Wut: "Wut bedeutet in diesem Fall, ich möchte etwas, aber ich bin ohnmächtig, es zu tun", so Ostgathe.

Das Gefühl könne sich anfangs in Aggression entladen, was zum Teil auch die in vielen Ländern beobachtete Zunahme häuslicher Gewalt während der Lockdown-Situation erkläre. Im weiteren Verlauf stelle sich Resignation ein.

Resignation löst Depressionen aus

Das Empfinden, an der Situation nichts ändern zu können, führe in vielen Fällen nach und nach in eine Depression: "In dieser Phase hat man die Hoffnung aufgegeben, dass sich etwas verändert und man investiert keine Bemühungen mehr darin, seine eigenen Wünsche und Sehnsüchte zum Ausdruck zu bringen."

Aus der beschriebenen Ausgangslage heraus könne auch der vermehrte Drogenmissbrauch erklärt werden. Die Menschen suchten nach Ersatzintensitäten. Aufgrund ihrer eingeschränkten Handlungsfreiheit würden sie diese vor allem im Konsum von Alkohol und anderen Drogen finden.

Ein zusätzlicher Faktor, der mitbestimmend dafür sei, wie belastend sich ein Stressereignis auf die Psyche der Betroffenen auswirkt, sei die öffentliche Kommunikation. Um das Prinzip zu erklären, nennt Ostgathe das Beispiel einer Kriegssituation.

Jemand, der es als seine patriotische Pflicht ansehe, sein Land in einer Kriegssituation zu verteidigen, habe viele Resilienzfaktoren, die einer psychischen Erkrankung entgegenwirkten. Er habe das Empfinden von Kohärenz, dass sein Handeln einen Sinn habe. Weil er aktiv handeln könne, habe er das Empfinden von Selbstwirksamkeit.

Nachvollziehbarkeit verhindert psychische Erkrankungen

Das lässt sich laut Ostgathe auch auf die Lockdown-Situation übertragen: Wenn die genannten Faktoren fehlten, wirke sich das Stressereignis stärker auf die Psyche aus. Die Betroffenen fühlten sich als Opfer der Umstände, sie hätten nicht das Gefühl, dass die Situation beeinflussen könnten.

Sinnvoll sei es daher, Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung so auszuwählen, dass die Menschen sie nachvollziehen können und die Kommunikation darüber so erfolgt, dass sich der Einzelne in der Bevölkerung nicht gegängelt fühlt, sondern als Partner im Bemühen um ein gemeinsames Ziel.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit dem Dipl. Psychologen Ingo Ostgathe (https://www.coaching-praxis-muenchen.de)
  • Channel News Asia: Half of Argentina's COVID-19 checks yield infection
  • NDR: Argentinien kämpft gegen Corona, Inflation und Rezession
  • Deutsche Welle: Corona: Argentinien und die ewige Quarantäne
  • Financial Times: Coronavirus risks critical blow to Argentina’s ailing economy
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