Wie gehen Menschen mit der Coronakrise um? Welche Gedanken treiben sie um und welche Chancen ergeben sich vielleicht? Wir haben nachgefragt. Hier erzählt der Münchner Koch Markus Mayer seine Geschichte.

Ein Protokoll

Die Coronakrise trifft viele Menschen nicht nur gesundheitlich, sondern stellt sie auch beruflich vor ganz neue Herausforderungen. Manche stehen vor dem Nichts, andere haben die Möglichkeit, die Krise auch als Chance für etwas Neues zu nutzen. Wir haben die Geschichten unterschiedlicher Menschen gesammelt und präsentieren sie Ihnen an dieser Stelle als Artikelserie - alle Berichte im Überblick finden Sie hier.

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Ich sehe Corona positiv. Sehr, sehr positiv sogar. Ich ecke ganz oft an mit meiner Meinung, wenn ich mit meinen Geschwistern oder meiner Frau darüber rede. Aber ich habe jetzt endlich Zeit.

Das letzte Mal so viel Urlaub am Stück hatte ich in meiner Ausbildung, wenn wir Betriebsferien hatten. 21 Jahre ist das her.

Ich bin Küchenchef in einem Betriebsrestaurant in München. Es war mein Glück, dass ich die Firma gewechselt habe. Würde ich heute noch in dem Betrieb arbeiten, in dem ich bis vor zwei Jahren war, sähe meine Situation anders aus. Vielleicht wäre ich sogar gekündigt worden.

Wirklich Sorgen hätte ich mir aber trotzdem nicht gemacht. Ich hätte aufs Amt gehen und mich arbeitslos melden müssen. Aber sobald die Gastro wieder aufsperrt, werden die der Gäste gar nicht mehr Herr werden. Weil die Leute nach ein, zwei Monaten zu Hause einfach raus wollen. Man muss sich also darauf einstellen, dass ein extremer Boom kommt, der das Geld wieder reinholt.

Bis es so weit ist, werden aber wahrscheinlich 30 oder 40 Prozent zugrundegehen, weil die kleinen Betriebe das nicht stemmen können. Das ist traurig für die Menschen, die jetzt ihre Existenzen verlieren.

Aber es ist gut für die, die überleben, weil wir seit über zehn Jahren einen massiven Personalmangel in der Gastro haben. Wir bekommen keine Fachkräfte und kaum Leiharbeiter - und wenn, dann zu horrenden Preisen, die niemand zahlen möchte oder kann. Nach der Krise hoffe ich, dass ich mir wieder aus zehn Köchen den besten aussuchen kann.

Seit 18. März bin ich Vollzeit-Papa

Am 18. März wurde mein Restaurant zugesperrt. Sie haben uns quasi gezwungen, Urlaub zu nehmen bis Ende des Monats, damit der März komplett abgedeckt ist. Seit April sind wir in Kurzarbeit.

Normalerweise bekommt man in Kurzarbeit 60 Prozent des Nettogehalts, mit Kind 67 Prozent. Bei uns sind es 80 Prozent, die Firma bezahlt den Differenzbetrag. Ich bekomme jetzt also 80 Prozent meines Nettogehalts dafür, dass ich daheim bleibe und auf Abruf bin, wenn es wieder losgeht.

Bis dahin habe ich Zeit, meinem Sohn zuzuschauen. Das ist extrem spannend. Es ist gerade die perfekte Phase: Er ist jetzt knapp zwei Jahre alt, da verändert sich alles so schnell.

Ich bekomme mit, wie er Tag für Tag beim Reden Fortschritte macht. Aus "Gaga" ist innerhalb einer Woche "Papa" geworden.

Auch dass er genau weiß, was er tut. Das war vor einem Monat noch nicht so. Dass er dir beim Wickeln zum Beispiel den Fuß wegzieht. Er findet es lustig, dass du nach dem Fuß angeln musst, und sobald du ihn hast, zieht er ihn wieder weg. Und dann lacht er ganz dreckig.

Mittlerweile hat er sich damit abgefunden, dass er seine Zeit mit mir verbringt. Davor hieß es immer: "Mama, Mama, Mama!" Das ist jetzt vorbei.

Ich habe mich vorher immer beschwert, dass er so distanziert zu mir war. Das ist aber auch klar: Wenn ich heimkomme und er hat drei oder vier Stunden Zeit für mich, aber auch die Mutter ist da, dann bin ich uninteressant.

Jetzt bin ich so interessant, dass ich nicht einmal allein aufs Klo gehen kann. Er kommt dann und lehnt sich an mein Knie. Was schon sehr schön ist. Das gab's vorher nicht.

Ich lerne, viel geduldiger zu sein, auf eine andere Art: Das ist Geduldigsein mit trotzdem nett bleiben. Was viel anstrengender ist. Denn auch wenn er mir gerade ein Senfglas auf den Zeh geschmissen hat und lacht, weil er mir helfen wollte, dann darf ich ihn nicht anschreien, sondern muss lächeln und sagen: "Dankeschön, dass du mir den Zeh gebrochen hast." Das ist schon eine Herausforderung.

Am Anfang ist es ganz easy. Wenn du aber dann eine Woche lang nur zwei Stunden Schlaf hattest, um 3:00 Uhr aufstehst und er unleidig ist, weil er einen neuen Zahn kriegt, oder er um 4:00 Uhr mit seinem Bobbycar Runden dreht und du denkst "Sei leise, die Nachbarn!", dann weißt du erst zu schätzen, was dein Partner da eigentlich geleistet hat.

Meine Frau und ich kommen uns gleichzeitig näher und distanzieren uns

Meine Frau ist sozusagen systemrelevant: Sie erhält als Bahnerin das öffentliche Leben aufrecht. Sie bildet Zugführer und Zugführerinnen sowie Zugbegleiter und Zugbegleiterinnen aus. Zwischenzeitlich durfte sie nicht schulen und fuhr wieder Zug.

Wir distanzieren uns gerade etwas, weil wir unterschiedliche Herangehensweisen bei der Erziehung haben. Sie hat oft nicht die Kraft, zu unserem Sohn Nein zu sagen und es durchzuziehen.

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Bei mir hat er in eineinhalb Wochen gelernt, so läuft das nicht. Wenn der Papa Nein sagt, dann heißt das Nein. Und wenn ich Blödsinn mit etwas mache, kommt es weg. Für meine Frau ist es hart, dabei zuzuschauen, weil der Kleine natürlich zu weinen anfängt, wenn man ihm quasi das Spielzeug wegnimmt.

Wir kommen uns gleichzeitig aber auch näher, weil wir uns mehr wertschätzen und mehr Freiräume lassen. Weil meine Frau arbeiten muss, stehe ich auch am Wochenende um 3:00 oder 4:00 Uhr auf, wenn der Kleine aufwacht, um ihr diese Erholungsphase zu gönnen. Ich manage jetzt Dinge, die ich vorher nicht managen konnte. Dass ich mich sowohl um meinen Sohn, als auch um den Haushalt kümmere. Ich muss zugeben: Das habe ich unterschätzt.

Sie war eineinhalb Jahre mit dem Kleinen daheim. Ich habe zu meiner Frau gesagt: "Dann leg dich halt hin, der Bua schläft doch mittags drei Stunden, wo ist denn dein Problem, was bist du müde?" Aber das klappt halt nicht, das lügt man sich vor.

Ich weiß endlich wieder, warum ich Koch geworden bin

Ich entdecke auch gerade die Liebe zu meinem Beruf neu. Ich koche viele Dinge, die es in den letzten Jahren zeittechnisch nicht gab. Letztens habe ich um 6:00 Uhr in der Früh Kesselfleisch angesetzt. Das köchelt dann bei niedriger Temperatur bis 18:00 Uhr abends. Dazu gibt es Kartoffelpüree und Sauerkraut. Wir haben T-Bone-Steaks und Lammkeulen gemacht, Spanferkelhaxerl ... also lauter Dinge, die du sonst nicht kochst.

Wenn du 300 Essen am Grill verkaufst, hast du keine Zeit, das Gemüse hübsch zu schneiden oder den Saucenansatz so anzurösten und stundenlang zu reduzieren, wie ich es in meiner Ausbildung gelernt habe.

Mir hat eine Bekannte mal gesagt, für mich wäre es das beste, ich wäre im Mittelalter geboren oder in Jugoslawien auf dem Dorf. Ich wäre Koch - und meine Bestimmung wäre: Frühstück, Mittag-, Abendessen, Familie, Punkt. Ohne Ablenkungen. So ist es ja jetzt ein Stück weit. Und ich finde es schön, den Kopf so frei zu haben.

Ich spiele mit meinem Sohn und schaue nicht zwischendurch aufs Handy, um Arbeitsdinge zu regeln oder einem Bekannten zu schreiben. Ich mache keine WhatsApp-Partys, keine Facebook-Verabredungen, ich treffe mich nicht auf Skype, um mit jemandem einen Film zusammen zu schauen oder ein Bier zu trinken. Ich habe null das Bedürfnis, Zeit mit anderen außerhalb meiner Familie zu verbringen.

Ich habe mir ein Hörbuch geholt und bessere damit mein Französisch wieder auf. Es gibt tatsächlich nur eine Sache, die mir fehlt, und das ist Lesen. Aber sobald ich ein Buch in die Hand nehme, fängt jemand anderes an, für mich zu lesen und Seiten rauszureißen. Das geht also leider noch nicht. Aber alles andere ist positiv.

Offenlegung: Der Protagonist ist mit einem Mitglied der Redaktion befreundet.

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