Bundeskanzlerin Angela Merkel überlässt es den Bundesländern, die Härte des künftigen Kurses im Kampf um niedrige Corona-Infektionszahlen zu bestimmen. Mehrere Experten halten das für gefährlich. Sie stellen vor allem eine aufgestellte Infektionsmarke infrage.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dem Druck aus den Bundesländern nachgegeben. Diese wiederum spürten das nicht mehr zu bändigende Verlangen aus Bevölkerung und Wirtschaft, zumindest ein wenig von den Corona-Fesseln befreit zu werden.
Sicherheitsmaßnahmen zur Eindämmung der Infektionszahlen sind gelockert worden, und sie werden, abhängig vom Wohnort in Deutschland, weiter zurückgenommen werden.
Experten sagen: Diese Lockerungen kommen zu früh
Diesen politisch beschrittenen Weg kritisieren Virologen und Epidemiologen quer durch die Republik.
Bund und Länder haben ihre weitreichenden Lockerungen in der Coronakrise aus Sicht des Infektionsforschers Michael Meyer-Hermann zu früh getroffen.
In den vergangenen Tagen sei die Zahl der Neuinfektionen wieder gestiegen, erläuterte der Leiter der Abteilung System-Immunologie am Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung am Donnerstag. Die genauen Ursachen seien noch ungewiss.
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Skepsis gibt es auch an der vereinbarten sogenannten Notbremse, wonach ab 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner in sieben Tagen ein Beschränkungskonzept greifen soll. Der Wert erscheine weit über den derzeitigen Kapazitäten der Gesundheitsämter zu liegen, sagte Rafael Mikolajczyk, Epidemiologe und Institutsdirektor der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg.
Martin Stürmer: "Das kann gewaltig nach hinten losgehen"
Der Frankfurter Virologe Martin Stürmer kritisierte: "Wir wollen zu viel auf einmal." Er sagte "hessenschau.de": "Das kann gewaltig nach hinten losgehen." Er habe große Zweifel, ob die Sicherheitsmaßnahmen in der Gastronomie bei allen Bemühungen ausreichend eingehalten werden können. "Beim Essen muss man eben den Mundschutz abnehmen."
Der Anstieg der Zahlen von Neuinfizierten in den Folgetagen korreliere zeitlich mit der vorherigen Öffnung erster Geschäfte, sagte Meyer-Hermann bei einer Veranstaltung des Science Media Center Germany.
Ob dies auch der Grund sei, sei aber unklar. Um eventuelle Verzögerungen bei der Datenübermittlung abzuwarten, wäre es aus seiner Sicht auch besser gewesen, erst Ende dieser Woche oder gar kommende Woche Lockerungen der Anti-Pandemie-Maßnahmen zu besprechen.
Meyer-Hermann: "Die Politik hat eine Chance vertan"
"Ich weiß nicht, wie schlimm das ist", sagte er. Doch hat die Politik aus seiner Sicht "wahrscheinlich" eine Chance vertan, in relativ kurzer Zeit zu so niedrigen Zahlen zu kommen, dass bei Infizierten eine Kontaktverfolgung und eine Lockerung möglich gewesen wären.
Viola Priesemann, Leiterin der Forschungsgruppe Theorie neuronaler Systeme am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen begrüßte es zwar, den Regionen Verantwortung zu geben.
Priesemann befürchtet ein regionales Wandern des Virus
Das könne aber nur funktionieren, wenn die Mobilität zwischen den Regionen gering bleibe. Dafür müssten sie die Kontrolle darüber haben, ob das Virus eingeschleppt wird, sagte Priesemann. Ansonsten bekomme ein Landkreis, der sich viel Mühe gebe, mitunter die Folgen zu spüren, wenn im Nachbar-Landkreis die Infektionen hoch bleiben.
Mikolajczyk hält nichts davon, Werte wie die 50 Neuinfizierten je 100.000 Einwohner binnen einer Woche von vorneherein festzuschreiben. "Vielmehr geht es darum, dass möglichst alle Fälle und deren Kontakte in einer Region durch die Gesundheitsämter identifiziert und isoliert werden können", sagte er. Das hänge von den lokalen Kapazitäten ab.
Corona-Warn-App soll Mitte Juni zum Einsatz kommen
Die geplante Corona-Warn-App der Bundesregierung soll voraussichtlich Mitte Juni in einer ersten Version zur Verfügung stehen. Dies sei ein realistischer Zeitraum, hieß es am Donnerstag in Regierungskreisen in Berlin.
In der ersten Version werde man sich mit der App sehr stark auf die Kernfunktion der Unterbrechung von Infektionsketten konzentrieren, hieß es weiter.
Erst in einer späteren zweiten Stufe werde eine freiwillige Datenspende an einen Forschungsserver möglich sein, um noch mehr Erkenntnisse gewinnen zu können.
Auf die sind nunmehr vor allem die lokalen Gesundheitsämter angewiesen.
Lokale Gesundheitsämter sind noch stärker gefordert
"Die Regelung schafft immerhin einen gewissen Anspruch, die lokalen Gesundheitsämter in die Lage zu versetzen, auf lokale Ausbrüche schnell und wirksam reagieren zu können", sagte der Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, Gérard Krause auf Anfrage. Das müsse in der aktuellen und auch der zu erwartenden Situation unbedingt gegeben sein. Wie man genau auf die oben genannte Schwelle gekommen sei, wisse er aber nicht.
Auch Eva Grill, Professorin für Epidemiologie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, sieht Positives in der Notbremse. "Wobei man sehen muss, ob die als Grenze angegebene Zahl von 50 neuen Fällen pro Woche und 100.000 Einwohnern tatsächlich niedrig genug ist." (dpa/hau)
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