- Gleichberechtigter und selbstbestimmter Zugang zu Gebäuden, Produkten, Arbeitsmarkt und Schule sollte für alle Menschen möglich sein.
- Laut Aktivist Raul Krauthausen liegt Deutschland hinsichtlich Barrierefreiheit und Inklusion weit zurück.
- In der Corona-Pandemie fühlen sich viele Menschen mit Behinderungen von der Politik vergessen.
Raul Krauthausen ist Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit. Als Gründer der Sozialhelden, studierter Kommunikationswirt und Design Thinker arbeitet er seit über 15 Jahren in der Internet- und Medienwelt und informiert in seinem wöchentlichen Newsletter zu den Themen Inklusion und Innovation. Krauthausen hat Osteogenesis imperfecta (umgangssprachlich Glasknochenkrankheit), ist kleinwüchsig, auf einen Rollstuhl angewiesen und lebt in Berlin.
Am 5. Mai findet der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung statt. Doch natürlich ist Inklusion zu jeder Zeit ein wichtiges Thema. Wie würden Sie den Begriff definieren?
Raul Krauthausen: Da würde ich den Schulpsychotherapeut meiner Grundschule zitieren. Er sagte, Inklusion ist die Annahme und die Bewältigung von menschlicher Vielfalt, die uns alle mit einschließt. Das bedeutet, dass sich Menschen mit oder ohne Behinderung gegenseitig akzeptieren und "aushalten" lernen.
Ein wichtiger Schlüssel für Inklusion ist Barrierefreiheit. Viele Menschen denken dabei zunächst an Rampen für Rollstuhlfahrer oder absenkbare Busse. Umfassende Barrierefreiheit bedeutet jedoch noch viel mehr.
Unter Barrierefreiheit verstehe ich den gleichberechtigten, selbstbestimmten Zugang zu allen Gebäuden, Produkten, Dienstleistungen sowie dem Arbeitsmarkt, der Schule usw. Dafür reicht es natürlich nicht aus, Rampen zu bauen. Denn wir sollten alle ein Recht darauf haben, gemeinsam und selbstbestimmt zusammen zu leben.
Selbstbestimmt bedeutet für mich, dass ich als behinderter Mensch eigenständig teilhaben kann. Bleiben wir beim Beispiel Rampe. Beim Busfahren beispielsweise bin ich als Rollstuhlfahrer oftmals darauf angewiesen, dass der Busfahrer eine Rampe ausklappt. Ich fühle mich dann als Bittsteller und kann mich nicht eigenständig bewegen.
Aktuell mangelt es allerdings bei uns in sehr vielen Bereichen an Barrierefreiheit...
Ganz genau. Wichtig wäre beispielsweise auch, dass die Kanzlerin standardmäßig von Dolmetschern in Gebärdensprache übersetzt und 100 Prozent des Fernsehprogramms untertitelt wird.
Deutschland bei Inklusion im europäischen Vergleich im hinteren Mittelfeld
Weiterhin dürfen Schülerinnen und Schüler nicht mehr aufgrund ihrer Behinderung aussortiert und an Förderschulen geschickt werden. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen, denn Deutschland liegt in puncto Barrierefreiheit und Inklusion behinderter Menschen im hinteren Mittelfeld in Europa.
In vielen Fällen ist der Gesetzgeber gefragt. Was fordern Sie?
Momentan ist es so, dass öffentliche Gebäude wie Schulen, Rathäuser oder Universitäten aufgrund gesetzlicher Vorgaben weitestgehend barrierefrei werden müssen – das gilt auch für den ÖPNV. Bei der Privatwirtschaft hingegen gibt es nicht mal eine Verpflichtung. Wir verbringen aber 90 Prozent unseres Lebens in Gebäuden der Privatwirtschaft, zum Beispiel bei der Arbeit. Hier muss die Gesetzgebung angepasst werden.
Sinnvoll wäre es, wenn Barrierefreiheit bei jeder Gesetzgebung oder Ausschreibung von Anfang an vorgeschrieben wäre. Ob Umweltschutz, Mobilität oder Arbeitsmarkt – alle Maßnahmen, die der Staat unterstützt, müssen barrierefrei mitgedacht werden.
Einige reden davon, dass auch Barrieren in den Köpfen abgebaut werden müssen...
Genau damit müssen wir aufhören. Diese Aussage ist fundamental falsch. Sie geht davon aus, dass die Mehrheitsgesellschaft nicht sensibilisiert ist für das Thema Menschen mit Behinderung. Doch das kann sie gar nicht sein, wenn wir einander nicht begegnen. Und diese Begegnung findet nicht statt, da wir Menschen mit Behinderung systematisch ausschließen, ob in Förderschulen, Sonderfahrdiensten oder bei der Arbeit.
Es braucht mehr Rechtssicherheit für behinderte Menschen
Wir müssen also für mehr Begegnungen sorgen. Das geht aber nicht, solange sich Arbeitgeber davon "freikaufen" können, behinderte Menschen zu beschäftigen und Lehrer es ablehnen können, behinderte Kinder zu betreuen. Wir brauchen hier mehr Rechtssicherheit für behinderte Menschen und eine Kultur des "Gewolltseins". Andere Länder wie die USA oder Großbritannien sind hier viel weiter.
Welche Auswirkungen hat derzeit die Corona-Krise auf Menschen mit Behinderung? Es heißt, dass viele Menschen mit Behinderungen ein erhöhtes Risiko für eine schweren Verlauf haben. Durch Assistenz- und Pflegebedarf liegt oftmals auch ein erhöhtes Ansteckungsrisiko vor. Wie sind ihre Erfahrungen?
Behinderte Menschen haben bundesweit den Eindruck, dass sie beim Schutz vergessen wurden. Denn die Mehrheit lebt nicht im Heim, sondern in den eigenen vier Wänden. Ob Maskenverteilung, Testen oder Impfen - die Maßnahmen der Politik galten immer für die Einrichtungen.
Bei diesen Themen wurden die behinderten Menschen zu Hause vergessen. Es kann nicht sein, dass sich diese Personengruppe ein Jahr zuhause isoliert und wir jetzt darüber diskutieren, dass wir Polizistinnen und Beamtinnen impfen. Doch nach wie vor sind Tausende behinderte Menschen nicht geimpft.
Luca-App nicht barrierefrei
Das setzt sich fort mit der Diskussion um den Grünen Pass für Geimpfte. Wenn dieser nicht barrierefrei ist, kann er nicht von allen genutzt werden. Gleiches gilt im übrigen für die Luca-App. Die ist nicht barrierefrei nach aktuellem Stand. Dass diese App staatlich finanziert wird durch den Einkauf von Kommunen, bevor sie überhaupt für alle zugänglich ist, spricht Bände über die Wahrnehmung behinderter Menschen.
Das hat wieder mit mangelnder Begegnung zu tun. Denn behinderte Menschen sind selten anzutreffen, obwohl zehn Prozent der Deutschen eine Behinderung haben. Daher wünsche ich mir von der kommenden Regierung, dass sie behinderte Menschen von Anfang an in alle Vorhaben mit einbezieht.
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