• In Essen ist es zu einem Großbrand gekommen. Ein Wohnkomplex mit 39 Wohnungen stand komplett in Flammen, über 100 Menschen mussten evakuiert werden.
  • Erst nach Stunden war das Feuer unter Kontrolle, die Essener Feuerwehr spricht von einer "bisher unbekannten Größenordnung".
  • Wie konnten die Flammen so rasant die ganze Fassade erfassen? Brandschutz-Experten sehen vor allem einen Grund. Und der ist nicht neu.

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Meterhohe Flammen, dichte Rauchschwaden, Menschen in Schlafanzügen auf der Straße: Der Großbrand in Essen hat für bundesweites Aufsehen gesorgt. In der Nacht von Sonntag auf Montag war ein viereinhalbstöckiger Gebäudekomplex mit 39 Wohnungen in Brand geraten.

Innerhalb kurzer Zeit hatten die Flammen die komplette Fassade des etwa 65 Meter langen Gebäudes erfasst. 150 Feuerwehrleute waren im Einsatz, die Löscharbeiten dauerten bis zum Vormittag. Die Essener Feuerwehr selbst sprach von einer "bisher unbekannten Größenordnung".

Noch sind die Wohnungen nicht betretbar, Brandermittlungen stehen deshalb noch an. Die "Tagesschau" berichtete, das Feuer habe sich wohl von einem Balkon aus ausgebreitet. Die Brandursache ist allerdings noch unklar. Ein Sprecher der Feuerwehr sagte: "Die massive Brandausbreitung hat alle Einsatzkräfte sehr überrascht." Normalerweise würden moderne Gebäude über sogenannte Brandriegel verfügen, die ein solches Szenario verhinderten.

Der Wohnkomplex im "Grünen Viertel" von Essen gehört dem Wohnungsanbieter Vivawest und wurde im Jahr 2015 errichtet. Luftaufnahmen zeigen den L-förmigen Aufbau des Gebäudes. Laut dem Unternehmen war der Neubau gemäß den Bauvorschriften mit Brandschutztüren gegen eine schnelle Verbreitung eines Feuers ausgestattet. Die Fassade sei mit einem Wärmedämmverbundsystem errichtet worden.

Großbrand in Essen: Auch "schwer entflammbar" kann brennen

Bei dem Brandsachverständigen Sebastian Herrgesell läuten bei diesem Wort die Alarmglocken. "Das Grundübel: In Deutschland und Europa wird dieses System weiterhin zum Einsatz gebracht", sagt der Experte. Es sei nach den Bauvorschriften zulässig, weil es offiziell als "schwer entflammbar" deklariert sei. Beim Wärmedämmverbundsystem werde Styropor mit Flammschutzmittel behandelt, um die Zündtemperatur nach oben zu schrauben. "Schwer entflammbar heißt aber nicht, dass es nicht brennbar ist", betont Herrgesell.

Wenn es eine Zündquelle mit ausreichend hoher Energie gebe, kann auch dieses Material in Brand geraten – "gerade, wenn die Platten schon ein paar Jahre alt sind, oder falsche Platten verwendet wurden", so der Experte. Brenne das Styropor einmal, sei das mit Dieselkraftstoff vergleichbar.

Hinzu kommt: "Die Platten sind mit einem Kleber punktuell auf die Fassade aufgebracht. Zwischen der Hauswand und der Platte gibt es einen kleinen Luftspalt, dazwischen kann eine Ausbreitung der brennbaren Gase stattfinden", erläutert Herrgesell. Wind könne das Ganze zusätzlich anfachen. Genau das dürfte in Essen passiert sein – auch in Nordrhein-Westfalen stürmt es seit Tagen.

"Das Essener Gebäude ist außerdem in einem Bogen gebaut. Der Halbkreis wirkt wie ein Kamin", sagt Herrgesell. Der Brand sauge den restlichen Sauerstoff, der in diesem begrenzten Raum vorhanden sei, an und intensiviere sich selbstständig. "Die Wärmestrahlung und die brennbaren Gase entzünden dann weitere brennbare Materialien", so der Experte.

Fassaden brennen immer wieder

Auch der Brandsachverständige Bernard Schwarze hält das Wärmedämmverbundsystem (WDV) für die Hauptursache des schweren Brandes. Um zu verhindern, dass Brände sich derartig ausbreiten, wird bei hohen Gebäuden in regelmäßigen Abständen ein Riegel aus nicht-brennbaren Stoffen, etwa Mineralwolle, eingezogen. Beide Experten sind sich aber sicher: In Essen hätten auch Brandsperren – ob vorhanden oder nicht – versagt. In der Vergangenheit ist das schon regelmäßig vorgekommen.

"Schwere Fassadenbrände wie in Essen gab es beispielsweise schon in Berlin, London, Frankfurt und Roubaix", erinnert Schwarze. Im Juni 2017 war die Fassadenverkleidung des Grenfell Towers in London in Brand geraten und hatte das Thema weltweit in die Schlagzeilen gebracht.

"Diese Brände werden nicht nachlassen, solange man hohe Gebäude so dämmt", warnt Herrgesell. Stets gebe es einen kurzen Aufschrei – nachhaltig ändere sich in der Bautechnik aber nichts. Dabei gebe es Alternativen: "Glas- oder Steinwolle beispielsweise", sagt der Experte. Auch Holzfaserplatten, die nicht wie Styropor Mineralölprodukte sind, seien hinsichtlich ihrer Brandeigenschaften und -ausbreitung zu bevorzugen.

Auch Schwarze meint: "Man sollte nur nicht-brennbare Baustoffe verwenden. Alles, was Erdöl enthält, kann am Ende brennen", erklärt er. Dass das System immer noch zum Einsatz komme, sei eine Kostenfrage. "Nicht-brennbare Stoffe sind teurer", sagt Schwarze. Eine Alternative bestünde in extern installierten Löschanlagen, die im Brandfall eine Ausbreitung verhindern sollen; doch auch die seien kostspielig.

Über die Experten:
Sebastian Herrgesell leitet ein Büro für Brandursachenermittlung und die Ermittlung von Explosionsursachen. Er ist als Sachverständiger für Versicherungen, Behörden und die Industrie tätig. Herrgesell studierte Sicherheit und Gefahrenabwehr an der Otto von Guericke Universität in Magdeburg.
Bernard Schwarze ist Sachverständiger für vorbeugenden und gebäudetechnischen Brandschutz und Geschäftsführer der Firma "Brandschutzteam Westfalen". Seit fast 30 Jahren ist er als Feuerwehrmann in der Freiwilligen Feuerwehr Bochum tätig.

Sonstige Quellen:

  • Tagesschau: Wohnkomplex ist einsturzgefährdet (21.02.2022)
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