130 Kinder sind im vergangenen Jahr in Deutschland getötet worden, viele Tausend wurden Opfer von Misshandlungen. Oft geschähen solche Taten in der Familie und seien deswegen schwer zu erkennen, so der Geschäftsführer des Deutschen Kindervereins, Rainer Rettinger. Dennoch gebe es Anzeichen, die sofort zu einer Anzeige führen sollten. Es geht um Zivilcourage.
Herr Rettinger, die Zahlen, die das Bundeskriminalamt (BKA) vorgelegt hat, sind erschreckend. Unter anderem besagen sie, dass in Deutschland im vergangenen Jahr im Schnitt jede Woche drei Kinder getötet wurden. Was an den BKA-Zahlen macht Sie besonders betroffen?
Rainer Rettinger: Natürlich macht jedes einzelne Schicksal traurig und wütend. Ich hatte eigentlich erwartet, dass die Zahl der getöteten Kinder weiter sinkt, aber sie ist von 108 auf 130 gestiegen - also eine Steigerung um 20 Prozent. Das kann man gar nicht fassen und erklären. Dass jemand ein Kind oder sogar sein Kind tötet, liegt jenseits der Vorstellungskraft der meisten Menschen. Ich hoffe nur, dass der Anstieg nicht dadurch zu erklären ist, dass Jugendämter oder freie Träger in ihrer Aufsichtspflicht versagt haben.
Vermuten Sie das aber und fordern deswegen schon länger eine Kontrolle der Arbeit dieser Institutionen?
Wir haben in Deutschland rund 560 Jugendämter, aber keine einheitlichen Standards und Verfahren für sie. Es gibt zudem keine Kontrolle der Kontrolleure. Das muss dringend geändert werden. Die Öffentlichkeit muss erfahren, wenn etwas falsch gelaufen ist. Jugendämter haben aber die Eigenschaft, sich einen Persilschein auszustellen. Das darf nicht sein, es müssen Menschen zur Verantwortung gezogen werden.
Im Fall des kleinen Alessio in Lenzkirch im Schwarzwald war es zum Beispiel so, dass Ärzte sagten, das Kind müsse dringend aus der Familie genommen werden. Das Jugendamt lehnte das aber ab, ein paar Tage später war der Junge tot. Zur Verantwortung gezogen wurde bislang nur ein Jugendamtsmitarbeiter, nicht aber dessen Vorgesetzte oder die zuständige Landrätin.
BKA-Chef Holger Münch hat bei der Präsentation der Zahlen auch gesagt, dass die Dunkelziffer der Taten höher liegt. Warum bleiben so viele Misshandlungen unentdeckt?
Vieles passiert hinter verschlossenen Türen und macht es für das Umfeld schwer, es zu bemerken. So finden etwa 90 Prozent aller Misshandlungen in der Familie statt.
Oft wird aber auch einfach weggesehen. Wir kennen einen Fall, in dem eine Lehrerin an einem Kind so offensichtliche Misshandlungen festgestellt hat, dass der Fall im Lehrerkollegium besprochen wurde. Unglücklicherweise hat das Kollegium aber beschlossen, sich nicht einzumischen. Das ist unverantwortlich.
Wie kann man denn erkennen, ob ein Kind misshandelt wird?
Es gibt einige offensichtliche und nicht so offensichtliche Zeichen. Die offensichtlichen sind blaue Flecken an Rücken, Bauch, Gesäß, Oberarmen oder Oberschenkeln. Stutzig machen sollte aber auch, wenn ein Kind distanzlos ist. Wenn man es zum Beispiel nicht kennt, es sich aber sofort auf den Schoß setzt. Psychologen sprechen dann von einem emotionalen Leck, das heißt: Das Kind sucht Liebe und Aufmerksamkeit, die es sonst nicht bekommt.
Was sollte man denn tun, wenn man so etwas feststellt?
Man sollte sich direkt an die Polizei und an das Jugendamt wenden.
Kann das auch anonym geschehen?
Ja, aber aus meiner Sicht sollte jeder die Zivilcourage besitzen, das nicht anonym zu machen. Das macht es für die Polizei leichter, der Anzeige nachzugehen. Und das ist auch vor Gericht wichtig. Kommt es nämlich zum Prozess, haben die Ankläger bei einer anonymen Anzeige keinen Zeugen, und es kommt häufig zu einem Freispruch "zweiter Klasse" für die Angeklagten.
Viele haben wohl auch Angst, jemanden fälschlicherweise zu beschuldigen. Wie kann man denn sichergehen, wenn man den Verdacht hat, dass ein Kind misshandelt wird?
Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Aber die meisten von uns haben eine gut ausgeprägte Emotionalität und können feststellen, ob bei einem Kind etwas nicht stimmt - auch wenn es nicht das eigene ist.
Wie werden Misshandlungen von Kindern überhaupt aufgedeckt?
Oft durch Hinweise aus dem Umfeld, aber in erster Linie durch einen Arzt oder Rechtsmediziner. Deswegen ist es uns wichtig, dass das Heilberufe-Gesetz geändert wird - und zwar im Hinblick auf die Schweigepflicht von Ärzten. Zum Beispiel müssen sich Kinderärzte untereinander austauschen dürfen, was derzeit der Datenschutz verhindert. Eltern, die ihr Kind misshandeln, wechseln häufig den Kinderarzt. Wenn da kein Kontakt zwischen dem alten und dem neuen Kinderarzt zustande kommt, kann für das Kind fatale Folgen haben.
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