Massenmorde, Schießereien, Folter und allein im vergangenen Jahr weit über 20.000 Todesopfer – in Mexiko bekriegen mächtige Drogenkartelle den Staat und bekämpfen sich untereinander mit unaussprechlicher Grausamkeit. Der neue Präsidentschaftskandidat hat deshalb nun eine umstrittene Idee.

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Die grausamen Details, mit denen in Mexiko konkurrierende Banden um die Vorherrschaft im Drogenhandel kämpfen, sind nur schwer zu ertragen.

Immer wieder werden Massengräber mit Dutzenden oder gar Hunderten von Toten gefunden. Oft weisen die Mordopfer grässliche Folterspuren auf, wurden gehäutet oder gevierteilt.

Mörder drapieren die Köpfe ihrer Opfer an öffentlichen Stellen. Ein Journalist wurde vor den Augen seiner Tochter erschossen - sie saß im Auto neben ihm auf dem Beifahrersitz.

Fast 21.000 Menschenleben hat der Konflikt allein im vergangenen Jahr gefordert, seit 2006 sollen es mehr als 200.000 Todesopfer sein.

Seit der damalige Präsident Felipe Calderón im Jahr 2006 die Bekämpfung der organisierten Drogenkriminalität zu einem seiner wichtigsten Ziele erklärt hatte, ist der Konflikt immer weiter eskaliert.

Calderón setzte erstmals das Militär zur Bekämpfung der Kartelle ein. Doch er hatte keine Chance.

Etwa 100.000 Militärs und Bundespolizisten stehen geschätzten 300.000 Anhängern der Drogenkartelle gegenüber, die hochmodern und bis an die Zähne bewaffnet sind.

Maschinengewehre, Handgranaten und sogar Granatwerfer gehören zu ihrer Ausrüstung.

Polizei hat nicht mal genügend Benzin

Militär und Polizei dagegen sind oft unzureichend ausgestattet: "Manchmal", sagt Mexiko-Expertin Maja Liebing von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, "reicht nicht mal der Sprit, um an den Tatort zu gelangen."

Neue Töne sind nun von dem linken Präsidentschaftskandidaten López Obrador zu hören.

Der 64-Jährige, der in den Umfragen vorne liegt, will die Gewaltspirale mit einer Amnestie für Dealer und Kartellbosse durchbrechen.

Eine Strategie, die man bei Amnesty "sehr kritisch" sieht: Hauptproblem, so Liebing, sei doch gerade "die extrem hohe Straflosigkeit der Verbrechen in Mexiko". Verbrechen gegen die Menschenrechte blieben zu 98 Prozent ungesühnt.

Mexikos Drogenproblem beruht auch auf der direkten Nachbarschaft zu den USA.

Dort, sagt Prof. Günther Maihold von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, gebe es einen "boomenden Drogenmarkt mit enormer Nachfrage nach Kokain und Amphetaminen".

In Mexiko selbst wird der Stoff nicht produziert, doch das Land liegt auf dem Transitweg der Drogen, die vor allem aus Kolumbien kommen.

Die Kartelle organisieren den Transport, bestechen Grenzbeamte, Militär und Polizei und zersetzen so den Staat mit Drogengeld.

Gelegentlich gelingen den Behörden spektakuläre Festnahmen, wie etwa vor einem Jahr, als Joaquin Guzman an die USA ausgeliefert wurde.

Der "El Chapo" genannte Chef des Sinaloa-Kartells war den mexikanischen Sicherheitsbehörden zuvor mehrmals entkommen.

Deshalb eskaliert die Gewalt in Barbarei

Doch solche Festnahmen führen eher zu weiterer Eskalation: "Die mexikanischen Kartelle", erklärt Maihold, "sind nicht pyramidal strukturiert wie die italienische Mafia, sondern sie arbeiten in Netzwerken." Wenn einer der Bosse verhaftet oder ermordet werde, gebe es oft keinen Nachfolger, stattdessen organisiere sich das ganze Netzwerk neu. "In dieser Phase kann es zu massiver Zunahme der Gewalt kommen."

Denn nicht nur innerhalb des Kartells brechen dann Nachfolgekämpfe aus, sondern auch zwischen den verschiedenen Banden.

Die "Nueva Generacion Jalisco" etwa konkurriert mit dem Sinaloa-Kartell. Zu den führenden Clans gehören auch die "Familia Michoacana" aus dem Bundesstaat Michoacán und die "Zetas", die nicht nur in 20 mexikanischen Bundesstaaten, sondern auch im Nachbarland Guatemala aktiv sind.

Acht bis zehn der 31 Bundesstaaten Mexikos sieht Experte Maihold als stark bedroht vom Drogenkrieg. Dort gebe es eine "starke Verquickung von Politik und Kartellen", die Korruption sei "sehr weit fortgeschritten".

Eine Lösung des Konflikts sei extrem schwierig – Maihold plädiert für eine bessere Bezahlung der Polizei, den Einsatz nachrichtendienstlicher Methoden und die Fokussierung der Verbrechensbekämpfung auf die gewalttätigsten Kartelle.

Große Hoffnung setzt er auf die Korruptionsbekämpfung mithilfe neuer Gesetze zur Parteienfinanzierung: "Es wird sich erweisen, ob die geplanten, sehr schmerzhaften Sanktionen wirklich greifen" und so die "Anfälligkeit der Politik für Drogengelder" zu reduzieren helfen.

Solange das nicht der Fall ist, leidet auch die Zivilbevölkerung in zunehmendem Maße unter dem Konflikt.

Regelmäßig, so Maihold, würden Unbeteiligte allein deshalb zu Opfern, weil andere Familienangehörige zu einer der Konfliktparteien gehörten. Manche Mordaktionen der Kartelle hätten sogar nur den Zweck "Polizeikräfte zu binden, um an anderen Orten freie Hand zu haben".

Touristen haben nichts zu befürchten

Touristen, so seine Einschätzung, haben nach wie vor wenig zu befürchten. Mehr als 32 Millionen kamen 2016 ins Land – ein enormer Wirtschaftsfaktor. Maihold mag nicht ausschließen, dass die Kartelle mittlerweile selbst im Tourismussektor tätig sind und die Gäste daher unbehelligt lassen.

Die Perspektive für die Einheimischen ist dagegen umso düsterer. Die Initiative von Präsidentschaftskandidat López Obrador, den Konflikt mit Amnestien und Verhandlungen zu lösen, hält Maja Liebing von "Amnesty International" für nicht gangbar.

Zwar sei Kolumbien erfolgreich gewesen, als es mit Rebellen verhandelte, die auch in den Drogenhandel verwickelt waren. Dies aber sei "ein Konflikt mit klaren Fronten" gewesen, die Rebellen hätten sich in eine politische Partei transformiert.

In Mexiko dagegen seien Drogenkartelle die Hauptprotagonisten der Auseinandersetzung – Verbrecherorganisationen eben.

Auch Liebing sieht deshalb Mexikos Chance vor allem in der Bekämpfung der Korruption und einer Stärkung der Zivilgesellschaft – die Politik müsse wieder unabhängig von den Kartellen werden.

Wer auch immer nach den Präsidentschaftswahlen im Juli das Land regieren wird, ein Ende der Grausamkeiten ist wohl erst einmal nicht in Sicht.

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