Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro hat laut Medienberichten angekündigt, die Weltgesundheitsorganisation WHO verlassen zu wollen. Diese Androhung ist ein weiterer Schritt Brasiliens in die politische Isolation.

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Erst Donald Trump, jetzt auch Jair Bolsonaro: Brasiliens Präsident hat laut Medienberichten angedroht, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verlassen zu wollen, weil die "parteiisch" sei.

Entweder die WHO höre auf, wie Partisanen gegen die Regierung zu sein, oder man überlege, diese zu verlassen. "Wir brauchen keine Leute von außen, die sich über die Situation hier den Kopf zerbrechen", sagte Bolsonaro laut dem Portal "veja.abril.com.br".

Die Empfehlungen der WHO laufen konträr zur Politik Bolsonaros. Während die Organisation den Menschen während der Coronavirus-Pandemie empfiehlt, den zwischenmenschlichen Kontakt auf ein Minimum zu reduzieren, fordert Bolsonaro, Kontaktbeschränkungen möglichst aufzuheben und zu einem normalen Alltag ohne social distancing zurückzukehren - der Wirtschaft wegen. Die Gesundheitsminister Henrique Mandetta und Nelson Teich, die im Grunde dieselbe Linie propagierten wie die WHO, wurden gefeuert oder warfen das Handtuch.

Wissenschaft vs. Ideologie: Bolsonaro setzt auf Malariamittel

Der Präsident setzt bei der Pandemiebekämpfung stark auf das Malariamittel Chloroquin, dessen Wirksamkeit in keiner Studie belegt ist - im Gegenteil. Eine Studie ergab sogar, dass COVID-19-Patienten, die mit Chloroquin behandelt werden, eine höhere Sterblichkeitsrate aufweisen. Auch die WHO warnt bislang vor diesem Mittel. Es ist eine Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft und Ideologie.

Weil die Regierung in Brasilia dem Virus bislang nichts Wirksames entgegenstellen konnte, griff der Präsident zu einem ganz anderen Instrument: der Zensur. Zunächst behauptete das Gesundheitsministerium, technische Probleme zu haben, weshalb die tägliche Verkündigung der Corona-Opfer nicht mehr am Nachmittag, sondern erst am späten Abend erfolgte - nach den quotenstarken Hauptnachrichtensendungen wie dem Journal National des TV-Senders "Globo".

Wenige Tage später berichtete eine regionale Zeitung, dass es sich gar nicht um technische Probleme gehandelt habe. Jair Bolsonaro höchstselbst soll dem Ministerium die Veröffentlichung der Zahlen untersagt haben.

Kein Wunder: Brasilien ist inzwischen das Land mit den höchsten Zahl an Neuansteckungen. Die Marke der täglichen Opfer stieg vergangene Woche auf mehr als 1000. Trauriger Rekord bislang waren 1473 Tote, wie das Gesundheitsministerium bekannt gab. Die Zeitung "Folha de S. Paulo" rechnete aus: ein Toter pro Minute.

Oberster Gerichtshof stellt sich gegen Bolsonaro

Doch die Informationen ließen sich nicht verschleiern. Plötzlich entstanden Webseiten, die das taten, was ein fürsorglicher Staat eigentlich tun müsste: die Daten im Internet veröffentlichen. Inzwischen hat auch der Oberste Gerichtshof (STF) die Regierung dazu verdonnert, die Zahlen wieder zu veröffentlichen.

Wie schon bei den Waldbränden im Amazonasgebiet vergangenes Jahr, als sich die Weltöffentlichkeit empörte, Druck erzeugte und die G7-Staaten finanzielle Soforthilfen anboten, reagierte Jair Bolsonaro auch jetzt äußerst gereizt auf Kritik von außen. Sein wiederkehrender Reflex: dicht machen - und wenn nötig, die Verbindungen kappen. So ist auch Bolsonaros Ankündigung in Richtung WHO zu verstehen. Es ist nicht die erste dieser Art.

Schon im Wahlkampf 2018 hatte er vor jubelnden Anhängern verkündet, im Falle eines Sieges aus dem Pariser Klimaabkommen auszutreten, wie unter anderem das Portal "extra.globo.com" berichtete. Den formellen Schritt vollzog er, anders als Donald Trump und die USA, zwar nie, dafür ließ er Taten sprechen: Er lockerte Umweltgesetze und Schutzgebietregelungen und kürzte die Mittel der Schutzbehörde Ibama. Seit Beginn dieses Jahres erreichen die illegalen Abholzungen in Brasilien Rekordwerte. Wer braucht da noch einen Austritt aus dem Klimaabkommen?

Es scheint ihm sogar egal zu sein, dass ihm durch seine Politik eine Menge Geld durch die Lappen geht. Norwegen und Deutschland hatten aus Protest gegen die Amazonaspolitik Bolsonaros ihren milliardenschweren Amazonas-Fonds gestoppt. Mit dem Geld sollte das Ökosystem geschützt werden.

Austritt aus WHO rechnet sich für Brasilien nicht

Auch ein Austritt aus der WHO würde Brasilien durchaus Geld kosten. Der freiwillige Spendenanteil, den Brasilien zur Finanzierung der Gesundheitsorganisation leistet, ist vergleichsweise mickrig. Brasiliens Anteil liegt laut WHO gerade einmal bei 0,01 Prozent der Gesamtsumme von 5,6 Milliarden Dollar - also bei rund einer halben Million Dollar. Damit liegt das größte Land Südamerikas noch weit hinter dem Zwergstaat Monaco und dem Inselstaat Fiji und sogar noch hinter dem seit Jahrzehnten wirtschaftlich ausgebluteten Simbabwe.

Nach Angaben der WHO lag die finanzielle Unterstützung, die Brasilien durch die Organisation erfuhr, im Zeitraum 2018/19 um ein vielfaches höher: Hilfe im Wert von 5,3 Millionen erhielt das Land - das Zehnfache.

Ein Sparpotenzial nutzloser Ausgaben wäre ein Austritt aus der WHO also nicht. Es zeigt sich darin vielmehr ein grundsätzlicher Wesenszug der brasilianischen Außenpolitik seit dem Amtsantritt Bolsonaros: Die Abkehr vom Multilateralismus.

Internationale Verpflichtungen sieht Bolsonaro als Ballast

Nimmt man seinen unmittelbaren Vorgänger, den Übergangspräsidenten Temer einmal aus, dann waren die letzten Präsidenten vor Bolsonaro allesamt Verfechter des Multilateralismus in der internationalen Politik. Nicht so der aktuelle Staatschef. Statt Brasilien als integralen Teil funktionierender Staatenbünde zu verstehen und so den Einfluss und die Reputation des Landes auszubauen, verfolgt Bolsonaro eine Strategie nationaler Isolation.

"Brasil acima de tudo", Brasilien über alles - das Wahlkampfmotto zeugte auch außenpolitisch von einer neuen Marschrichtung. Internationale Verpflichtungen sieht Bolsonaro als politischen Ballast an.

Wenig Begeisterung bringt Bolsonaro auch für den 1991 gegründeten südamerikanischen Staatenbund Mercosul auf. Dessen Nutzwert für Brasilien als weitaus größten und wirtschaftlich stärksten Partner erscheint ihm als begrenzt. Hinzu kommen große ideologische Unterschiede zwischen den jeweiligen Regierungen, die ein vertrauensvolles Miteinander erschweren.

Brasiliens politisches Verhältnis zu Argentinien angespannt

Beim Nachbarn Argentinien immerhin, dem zweiten großen Partner im Mercosul, fand Bolsonaro bei seinem Amtsantritt mit Marcelo Macri einen Präsidenten vor, der in der Ökonomie ähnliche Ansätze verfolgte wie sein eigener Wirtschaftsminister Paulo Guedes.

Vier Jahre lang hatte Macri versucht, durch Marktliberalisierung die Geschicke seines Landes zum Besseren zu wenden. Er strich Subventionen, versuchte Reformen durchzusetzen und besorgte sich beim Internationalen Währungsfonds den größten Kredit, den dieser je gewährt hatte: 57 Milliarden Dollar. Alles vergebens.

Dafür trieb Macri mit seiner Politik die ohnehin schon hohe Verschuldung noch weiter nach oben. Als er Ende 2019 abgewählt wurde, übergab er seinem Nachfolger Alberto Ángel Fernández ein Land, das - wie zuletzt erst beim Staatsbankrott 2001 - kurz vor dem Kollaps und einer Hyperinflation stand.

Die Probleme der nach Brasilien zweitgrößten Volkswirtschaft Südamerikas strahlen auf die Nachbarländer aus. Doch stärker als die Einsicht, wirtschaftlich aufeinander angewiesen zu sein, scheint bei Bolsonaro die politisch-ideologische Fixierung zu sein.

Gewiss, Fernández provozierte ihn auch, als er noch am Wahlabend eine eher linke Grußbotschaft zum großen Nachbarn schickte, in der er die Freilassung des ebenfalls linken Ex-Präsidenten Lula da Silva aus der Haft forderte. Doch Jair Bolsonaro ging prompt auf die Provokation ein und ließ sich zu der Aussage hinreißen, Argentinien habe "schlecht gewählt".

Das Verhältnis der beiden Nachbarländer ist seither nicht nur dann angespannt, wenn brasilianische und argentinische Fußballteams gegeneinander antreten. Brasilien verfolgt wirtschaftliche Interessen, die Argentinien wenig gefallen, und strebt zum Beispiel eine Senkung der Ausfuhrzölle für Produkte aus dem Mercosul-Raum an.

Brasilien isoliert sich weiter

Angesichts der wachsenden Spannungen in der Region stellt sich auch folgende Frage: Was bedeutet die nach mehr als 20 Verhandlungsjahren erzielte Einigung über die Grundzüge eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und dem Mercosul?

Für die Regierung Bolsonaro könnte es jedenfalls schwerer werden, ihre wirtschaftspolitische Ausrichtung zu definieren. Neben China und den USA würde dann eine dritte Wirtschaftsgroßmacht Zugang zum brasilianischen Rohstoffmarkt gewinnen. Interessenskonflikte scheinen da nicht ausgeschlossen.

Doch bis zum Freihandelsabkommen wäre es ohnehin ein langer Weg. Erst vor wenigen Tagen hat das niederländische Parlament, nach Österreich, die Ratifizierung abgelehnt. Es dürfte nicht die letzte europäische Regierung gewesen sein, die auf diese Art ihre Missbilligung gegenüber der Politik Bolsonaros ausdrückt.

Ruhig geworden ist es seit Bolsonaros Regierungsübernahme unterdessen um den Interessenverbund BRICS. Die Abkürzung beschreibt den Zusammenschluss der Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika.

Innerhalb des Bundes haben Interessenkonflikte zugenommen. Der Schwerpunkt der neuen Außenpolitik Brasiliens liegt auf einem guten Verhältnis zu den USA - dabei gehört zum grundlegenden Selbstverständnis der BRICS, der US-amerikanischen Dominanz in der Weltwirtschaft und -politik etwas entgegenzusetzen. Zudem liegen die USA immer wieder im Clinch mit China, dem wichtigsten Handelspartner Brasiliens.

Bolsonaro mit Kalkül auf Spaltungskurs

Im November 2019 trafen sich die Staatschefs der fünf Länder nach einer längeren Pause wieder - diesmal in Brasília. Im Wahlkampf hatte Bolsonaro noch laut über die chinesische Expansion in Brasilien geschimpft. Nun zeigte er sich dankbar dafür, dass chinesische Energiekonzerne mitgeholfen hatten, dass die jüngste Ausschreibung von Ölfeldern nicht vollständig zum Fiasko geworden war. Xi bot zudem einen milliardenschweren Investitionsfonds für brasilianische Infrastrukturprojekte an.

Brasilien ist also auf ein gutes Verhältnis sowohl zu China als auch zu den USA angewiesen. Ein schwieriger Balanceakt, den die Regierung Bolsonaro zu vollziehen hat, wenn sie nicht zwischen den Supermächten zerrieben werden will. Die haben ihrerseits beide großes Interesse am Rohstoffreichtum Brasiliens und an dessen Markt von 220 Millionen Menschen.

Für Bolsonaro erfüllt die politische Isolation einen weiteren Zweck. Durch die Konstruktion eines Spannungsfelds zwischen Gegnern seiner Politik und Anhängern, verringert sich die Diskursfähigkeit. Meinungen werden nicht mehr argumentativ gelöst, sie werden zu ideologischen Kampfbegriffen, die die Spaltung innerhalb der Bevölkerung weiter betreiben.

Bolsonaros Politik, die bislang wenig Erfolgreiches vorzuweisen hat, ist darauf angewiesen, die Anhänger bei der Stange zu halten und so den innenpolitischen Druck hochzuhalten. Der Ton wird dabei freilich immer schärfer und radikaler, die Stimmung immer aufgeheizter - und die Folgen dieser Zuspitzung immer unberechenbarer.

Verwendete Quellen:

  • WHO: Anteil Brasiliens an der Finanzierung und Auszahlung an Brasilien
  • Veja: Bolsonaro schimpft über WHO
  • Agazeta.com: Bolsonaro: Schluss mit Material für das TV. Totenzahlen erst später am Abend
  • Globo: Bolsonaro droht mit dem Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen
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