In Abu Dhabi gibt es seit Kurzem das sogenannte Abrahamic Family House – ein Gebetsort für Muslime, Christen und Juden. Das Motto dieser Einrichtung: Keine Religion soll über der anderen stehen. Eine Sensation für die Vereinigten Arabischen Emirate. Kritiker sprechen von geheuchelter Toleranz, Völkerrechtler von einem Schritt in die richtige Richtung.

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In Abu Dhabi in den Vereinigten Arabischen Emiraten können Gläubige und Touristen einen ganz besonderen Gebetsort besuchen: das sogenannte Abrahamic Family House. Dabei handelt es sich um einen großen Platz, auf dem eine Moschee, eine Synagoge und eine Kirche stehen. Muslime, Juden und Christen sollen hier gemeinsam und friedlich ihre Religionen praktizieren können.

Alle drei Bauwerke bestehen aus demselben Material

Das Besondere an den drei Gotteshäusern ist, dass sie alle auf einer Ebene stehen, die gleiche Form und Größe besitzen und aus demselben Material geschaffen wurden. Dadurch soll das Gefühl einer Hierarchie vermieden werden, heißt es auf der Website des Abrahamic Family House. Die Besucher sollen sich auf Augenhöhe begegnen und keine Religion soll über der anderen stehen. So wollte es der Herrscher von Abu Dhabi, Muhammad bin Zayid Al Nahyan, als er im Jahr 2019 mit der Umsetzung des Projekts begann. Zum damaligen Zeitpunkt waren Papst Franziskus und der Imam der Al-Azhar-Moschee in Kairo – eine der einflussreichsten Gotteshäuser in Ägypten – zu Besuch in den Emiraten. Sie besiegelten den Bau des Abrahamic Family House durch ihre Unterschriften auf einer Steinplatte, die nun im Besucherzentrum des Gebetsorts hängt.

Der einzige Unterschied zwischen den drei Gebäuden besteht in deren Ausrichtung. Die Moschee ist nach Mekka gerichtet, die Synagoge nach Jerusalem und die Kirche nach Osten in Richtung aufgehender Sonne. Darüber hinaus sind die Gebetshäuser über einen erhöhten Landschaftsgarten miteinander verbunden, der als gemeinsamer Raum für Zusammenkünfte und Verbindungen dienen soll.

Damit handele es sich beim Abrahamic Family House um ein Projekt, das es so im arabischen Raum noch nicht gebe, sagt Matthias Hartwig gegenüber unserer Redaktion. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und befasst sich dort unter anderem mit Menschenrechten im arabischen Raum. In dieser Tätigkeit war er mehrfach in Verfassungsgebungsprozesse zum Beispiel in Libyen und im Jemen involviert. Laut Hartwig hat es in den Vereinigten Arabischen Emiraten schon immer unterschiedliche Religionen gegeben. Aber dass man das mit dem Abrahamic Family House nun so prononciert zum Ausdruck bringe – dass diese drei abrahamitischen Religionen an einem gemeinsamen Ort ihre Religionsausübung pflegen – sei etwas Besonderes, so der Völkerrechtswissenschaftler.

Die Gebetshäuser wurden von Star-Architekt Sir David Adjaye OM OBE entwickelt und verzichten auf jeglichen Schnörkel, der sonst repräsentative Gebäude in den Emiraten ziert. Das Abrahamic Family House soll schließlich grundlegende Werte wie “friedliche Koexistenz, Neugierde und die zentrale Bedeutung der menschlichen Brüderlichkeit” verkörpern. Denn diese Werte verkörpern wiederum den Multikulturalismus und die Vielfalt in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo Gemeinschaften aus mehr als 200 Nationalitäten friedlich zusammenleben, wie auf der Website des Projekts zu lesen ist.

Kritiker sehen in diesem Projekt geheuchelte Toleranz

Doch genau an diesem Punkt scheiden sich die Geister. Noch im Jahr 2021 erklärte die Organisation Human Rights Watch nach intensiven Beobachtungen, dass die Vereinigten Arabischen Emirate weder Demokratiebewegungen noch freie Meinungsäußerung dulde. Vor diesem Hintergrund sprechen Kritiker im Zusammenhang mit dem Abrahamic Family House von geheuchelter Toleranz. Sie halten es für unwahrscheinlich, dass die Vereinigten Arabischen Emirate plötzlich weltoffen sein sollen und ihre eigene Religion vor allem im Hinblick auf die Scharia auf die gleiche Stufe mit anderen Religionen stellen.

"Auf der einen Seite ist in den arabischen Ländern eine unglaubliche Entwicklung zu sehen – vor allem in den Golfstaaten, in die natürlich sehr viel Geld reingeflossen ist. Dadurch hat eine Globalisierung stattgefunden. Diese führt unweigerlich dazu, dass auch in anderen Gebieten eine Öffnung stattfindet.
Die andere Seite ist, dass es Traditionen gibt, die in der Bevölkerung tief verankert sind – über Jahrzehnte, über Jahrhunderte. Das wird sich nicht von heute auf morgen ändern. Bisweilen gehen solche Veränderungen von oben aus. Wie schnell sie auch allgemeine Akzeptanz finden, ist eine andere Frage. Darüber hinaus ändert die architektonische Gleichheit der Gebetshäuser nichts an der verfassungsrechtlichen Niederlegung, dass eben die Scharia bestimmend ist und die Vereinigten Arabischen Emirate ein muslimischer Staat sind", erklärt der Völkerrechtler.

Tatsächlich verfolgen die Vereinigten Arabischen Emirate seit ein paar Jahren eine Null-Probleme-Außenpolitik. Sie vermeiden internationale Konflikte und setzen auf Freundschaften. 2020 hat Mohammed Bin Zayed nach jahrzehntelanger Feindschaft einen Friedensvertrag – das sogenannte Abraham-Abkommen – mit Israel geschlossen.

Vereinigte Arabische Emirate scheinen sich der Welt zu öffnen

Zusätzlich wurde das Scharia-Recht in den Emiraten gelockert – zum Beispiel dürfen unverheiratete Paare zusammenleben und Muslime Alkohol trinken – und die Liberalisierung des Marktes vorangetrieben. Wo beispielsweise noch bis 2020 ausländische Investoren einen lokalen Partner in den Emiraten haben mussten, der zudem mindestens 51 Prozent der Unternehmensanteile besaß, ist heute eine 100-prozentige ausländische Beteiligung möglich. Kurzum: Das Land öffnet sich Stück für Stück und somit auch die heimische Religion.

"Wenn man jetzt genauer hinschaut, kann man natürlich fragen: Wenn sich jetzt drei Religionen zusammenschließen – also die Juden, die katholische Kirche und die Sunniten – was ist denn dann eigentlich mit den Schiiten, was ist mit den protestantischen Religionen? Wenn man böswillig ist, könnte man sogar sagen: Ein Zusammenschluss der drei Religionen unter dem Dach des Abrahamic Family House bedeutet gleichzeitig einen Ausschluss aller anderen Religionen. Ganz zu schweigen von den Buddhisten oder Hindus, die ja wegen der vielen Gastarbeiter in den Emiraten eine große Rolle spielen", sagt Hartwig.

Trotzdem bleibe es ein richtiger Schritt, so der Völkerrechtler weiter. "Es ist ein Schritt in Richtung einer Religionstoleranz. Und ich sehe nicht, dass hier ein Projekt verfolgt wird, das mit dem Zusammenschluss dieser drei Religionen alle anderen Religionen ausschließt. Vielleicht ist einer der nächsten Schritte im Ausbau des Abrahamic Family House, die anderen Religionen miteinzubeziehen", sagt Matthias Hartwig abschließend.

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