Es zählt zu den rätselhaftesten Fällen der Sowjet-Geschichte und es kursieren Dutzende Verschwörungstheorien: Das Unglück am Djatlow-Pass im Jahr 1959. Die russische Staatsanwaltschaft will den Fall 60 Jahre später neu untersuchen, um spekulative Lücken zu schließen. Doch schon ehe sie die Ermittlungen aufgenommen haben, gibt es neue Spekulationen.

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Es gibt Fälle, die auch 60 Jahre nach ihrem Ereignen kein bisschen an Spannung verloren haben. Das Unglück am Djatlow-Pass, bei dem neun Studenten auf bislang ungeklärte Weise zu Tode kamen, zählt dazu.

War es überhaupt ein Unglück? Über die Geschehnisse im Jahr 1959 im nördlichen Uralgebirge Russlands kursieren dutzende Verschwörungstheorien - von Alien-Entführung über geheime Waffentestung bis hin zu einem Lawinen-Unglück.

Anlässlich des 60. Jahrestages rollen russische Behörden den Fall neu auf. Das Interesse an einem der außergewöhnlichsten Fälle in der Sowjet-Geschichte ist nämlich ungebrochen groß.

Stoff für Albträume

Das Unglück am Djatlow-Pass hat das, was man "Stoff für Albträume" nennt: Ungeklärtes Verschwinden, rätselhafte Fußspuren, radioaktive Verseuchung und schwere Verletzungen. Unsere Redaktion hat bereits in ihrem Mysterie-Ressort über den ungewöhnlichen Fall samt seinen zahlreichen Ungereimtheiten berichtet. Und das ist passiert:

Unter Führung des 23-jährigen Igor Djatlow - später trauriger Namensgeber des Passes - bricht Ende Januar 1959 eine Gruppe bestehend aus neun Studenten der Technischen Universität des Uralgebirges zu einer Bergwandertour auf.

Die zwei Frauen und sieben Männer, allesamt sportlich und wandererfahren, planen eine 16-tägige Expedition mit über 300 Kilometern Länge durch das nördliche Ural entlang der Berge Otorten und Kholat Syakhl. Im Dorf Vizhay will sich die Truppe Mitte Februar mit einer Sportgruppe zusammenschließen und Kontakt via Telegramm aufnehmen. Doch dazu kam es nie.

Mysteriöser Fundort

Die letzte Station der Expeditionsgruppe wird der Hang des Kholat Syakhi - auch Berg des Todes genannt - in der Nacht zum 1. Februar 1959 werden. Hier schlagen die Bergwanderer bei eisigen Minusgraden ihre Zelte auf. Das findet ein freiwilliger Rettungstrupp heraus, der sich am 20. Februar auf die Suche macht und sechs Tage später fündig wird.
Das Bild, das sich ihnen bietet, ist rätselhaft: In den Zelten befindet sich beinahe das gesamte Gepäck der Studenten, darunter Ausweise, Geld, Tagebücher und auch alle warmen Kleidungsstücke. Noch mysteriöser: Die Zelte sind von innen aufgeschlitzt worden, aus den Zelten heraus führen Fußspuren, die für einen fluchtartigen Abstieg in den Wald sprechen.

Starke innere Verletzungen

Am Ende der Spuren, nicht weit vom Lager entfernt, tauchen die ersten Leichen auf. Bloß in Unterwäsche bekleidet liegen die Toten erfroren im Schnee. Neben ihnen abgebrochene Äste, die auf einen Fluchtversuch auf Bäume hindeuten, sowie eine Feuerstelle.

Vier weitere Leichen werden im Mai gefunden - begraben unter meterhohem Schnee, bekleidet teilweise mit Kleidungsstücken ihrer Freunde. Die Toten weisen keine starken äußeren Verletzungen auf, aber die inneren Verletzungen lassen auf einen grausamen Tod schließen: Schädelfrakturen, Rippenbrüche, einer Toten fehlt sogar die Zunge.

Einer der damals untersuchenden Ärzte, Boris Vozrozhdenny, stellte fest: "Die Heftigkeit der inneren Verletzungen würde man vielleicht bei einem Autounfall erwarten." Ebenfalls bemerkenswert: Die Kleidung der Leichen ist radioaktiv verseucht.

Todesursache: "Unbekannte Kräfte"

Was erklärt die Fundsituationen am Tatort? Wie kamen die Studenten ums Leben? Die Untersuchungen der russischen Behörden werden schnell aufgenommen und ebenso schnell beendet.

Eine Fremdeinwirkung sei ausgeschlossen, "unbekannte Kräfte" seien für den Tod der jungen Menschen verantwortlich. Die Akten werden geschlossen - unzugänglich für die Öffentlichkeit in einem geheimen Archiv.

Was sind "unbekannte Kräfte"? Eine der gängigsten Theorien lautet, dass die Gruppe von einer Lawine überrascht wurde, auch wenn Experten sie an dieser Stelle des Urals für unwahrscheinlich halten. Wie wäre das Zeltlager bei einer Lawine an Ort und Stelle geblieben?

Das Auffinden in Unterwäsche sei mit dem Phänomen des "Paradoxen Entkleidens" zu erklären, wonach Unterkühlte trotz Minusgraden Hitze verspüren und sich ausziehen.

Eine andere Theorie geht von einem Überfall des indigenen Volkes der Mansen aus, die in dem Gebiet leben. Dementgegen stehen aber beispielsweise die starken inneren Verletzungen, die nicht von Menschen verursacht sein können.

Geheime Waffentests der Sowjets?

Und woher stammen die radioaktiven Spuren? Spekulationen machen dafür geheime Waffentests der Sowjets verantwortlich. Stieß die Gruppe auf ein militärisches Übungsgelände, wo geheime Tests durchgeführt wurden? Passend zu dieser Theorie werden Zeugenaussagen von Touristen herangezogen, welche laut Dokumenten des Strafverfahrens helle Himmelsphänomene beobachtet haben wollen.

Bislang hatte man diese Beobachtungen mit Raketen-Teststarts von einem Testgelände in Kasachstan erklärt. Darüber, ob es in diesem Zeitraum überhaupt Raketenstarts gab, herrscht aber Uneinigkeit.

Es gibt auch Theorien, wonach es Vermerke über einen gescheiterten Raketenstart von Kapustin Jar nahe Wolgograd am frühen Morgen des 2. Februar gebe. Sollten die Studenten beseitigt werden, nachdem sie Zeugen eines geheimen Experimentes geworden waren?

Rakete als Todesursache

Ob geheime Waffentests oder eine Auseinandersetzung innerhalb der Gruppe: Die wilden Spekulationen reißen auch nach 60 Jahren nicht ab. Der russische Blogger Walentin Degterew spekulierte erst kürzlich, verantwortlich für den Tod der Studenten sei eine Rakete mit kurzer Reichweite gewesen, welche in die Felswand einschlug. Dabei stützt sich Degterew auf Satellitenbilder aus der Region, auf denen er einen dreißig Meter breiten Krater erkennen will - etwa drei Kilometer vom Zeltlager der Expeditoren entfernt.

"Russia Beyond" - ein Ableger der russischen Staatszeitung Rossijskaja Gaseta - zitiert den Blogger: "Durch die Schockwelle aufgeweckt, wurden die Bergsteiger vom hellen Licht geblendet, was womöglich zu einem kurzzeitigen Sehverlust führte. Das erklärt die plötzliche Flucht und den Abstieg in den Wald."

Die Liste der offenen Fragen ist also lang: Warum entkleideten sich die Studenten oder trugen Kleidung ihrer Freunde? Wie sind die aufgeschlitzten Zelte und die radioaktive Verseuchung zu erklären? Keine Theorie kann die Ereignisse lückenlos erklären.

Rätsel um Untersuchungen selbst

Und auch die Untersuchungen der Behörden selbst heizten Spekulationen an. Lange Zeit wurden die Untersuchungsdokumente unter Verschluss gehalten, erst in den 1990er-Jahren werden Kopien der Öffentlichkeit zugänglich, angeblich fehlen Seiten. Auch der Zugang zu dem Gebiet wurde für drei Jahre nach dem Unglück gesperrt.

Auf der jetzt stattgefundenen Pressekonferenz sagte der Staatsanwalt Andrei Kurjakow, welcher die neu aufgenommenen Untersuchungen leiten wird, der Grund der langen Geheimhaltung sei ein einzelnes Dokument gewesen. "Wenn auch nur ein einziges Dokument als geheim eingestuft wird, dann unterliegt die gesamte Akte der Geheimhaltung", zitiert der "Stern" Kurjakow, welcher auf der Pressekonferenz eine Akte mit 400 Originalseiten zeigte. Hartnäckig hält sich aber das Gerücht, dass es eine zweite Akte gibt.

Weitere Verschwörungen ranken sich um widersprüchliche Datumsangaben in den Ermittlungsakten, die vor dem offiziellen Leichenfund liegen sollen, sowie der Einsatz von vielen Soldaten bei den Sucharbeiten.

Spekulative Lücken schließen

Um nun spekulative Lücken im Gesamtbild der Ereignisse endgültig zu schließen, befasst sich die lokale Staatsanwaltschaft der Region Swerdlowsk erneut mit dem Fall.

Wie die russischen Behörden auf einer Pressekonferenz mitteilten, bediene man sich dabei unterschiedlicher Instrumente: "Wir werden alles mit modernen Geräten überprüfen", zitiert der "Stern" Kurjakow weiter. Unter den Experten sind etwa Kenner der Geodäsie (Lehre von der Ausmessung und Abbildung der Erdoberfläche) und Meteorologie.

Untersuchungen mit modernen Geräten

Mit modernen Geräten könnten beispielsweise die radioaktiv verseuchten Kleidungsstücke neu untersucht werden. Staatsanwalt Kurjakow bestätigte, dass in den Prozessakten Hinweise über Strahlung vermerkt seien. Aber laut der Expertise sei die "Beta-Strahlung auf irgendeine Weise aufgebracht beziehungsweise aufgetragen" worden - so berichtet es zumindest die russische Nachrichtenagentur "Sputnik".

Eine psychiatrische Analyse soll anhand von psychologischen Profilen der Gruppenmitglieder eine Neueinschätzung zum Verhalten und zu den Reaktionen der Opfer in normalen und Extremsituationen liefern. Erstellt werden sollen die Profile auf Grundlage von Medienberichten, privaten Aufzeichnungen und Zeitzeugeninterviews.

Situation detailgetreu nachstellen

Außerdem sollen in einem sogenannten Reenactment-Experiment mögliche Abläufe am Original-Unfallort detailgetreu nachgespielt werden. Dabei erhofft man sich beispielsweise Antwort auf die Frage, ob wirklich alle Mitglieder das Zelt durch das aufgeschlitzte Loch verlassen konnten.

Ebenso will man herausfinden, ob die Studenten die jeweiligen Strecken innerhalb von sechs bis acht Stunden überhaupt zurückgelegt haben können - so lange sollen die im Mai gefundenen Studenten nach Verlassen des Zeltes noch gelebt haben.

Auch eine Exhumierung schließt die Staatsanwaltschaft nicht aus. Denn Angehörige der Verstorbenen berichteten damals, die Haut der Leichen sei tief gebräunt gewesen, die Haare komplett grau. Staatsanwalt Kurjakow sagte laut "Stern" dazu: "Falls die Experten eine Exhumierung für notwendig erachten, werden wir die Angehörigen um Erlaubnis bitten."

Insgesamt plant die Staatsanwaltschaft neun unterschiedliche Untersuchungen. Erste Ergebnisse und Details sollen voraussichtlich im August veröffentlicht werden.

Neue Gerüchte programmiert

Mit der Wiederaufnahme der Untersuchungen dürften die Spekulationen aber nicht zum Erliegen kommen. Denn: Kurjakow kündigte auf der Pressekonferenz an, lediglich drei von knapp 100 Theorien zu untersuchen. Dabei handelt es sich um die Szenarien Lawine, Wirbelsturm und Schneebrett.

Der "Stern" schreibt dazu: "Ermittler gehen ausgerechnet den drei unwahrscheinlichsten Theorien nach." Ein Wirbelsturm beispielsweise konnte eigentlich bereits vor 60 Jahren anhand meteorologischer Daten ausgeschlossen werden.

Verbrechen sei ausgeschlossen

Bei Zeitzeugen stößt dieses Verfahren auf Unverständnis. Der "Stern" zitiert dabei Wjacheslaw Karelin, einst selbst Bergwanderer. Dieser sagte dem Nachrichtenportal "Mayaksbor.ru": "Wir haben jahrelang dafür gekämpft, dass die Ermittlungen wieder aufgenommen werden." Nun sei er empört und verblüfft darüber, dass nur drei Theorien geprüft werden sollen, die alle mit Naturkatastrophen verbunden sind.

Dass die Staatsanwaltschaft sich also überhaupt nicht mit einer Verwicklung staatlicher Organe befasst, sorgt erneut für viele Fragezeichen. Kurjakow betonte laut "CNN": "Ein Verbrechen steht nicht zur Debatte. Es gibt keinen einzigen Hinweis, nicht einmal einen indirekten, um eine kriminelle Tat in Erwägung zu ziehen. Es war entweder eine Lawine, ein Schneebrett oder ein Windsturm."

Verwendete Quellen:

  • cnn.com: "Russia reopens investigation into 60-year-old Dyatlov Pass mystery"
  • heute.at: "Was ist damals am "Berg des Todes" passiert?"
  • motherboard.vice.com: "Das Djatlow-Mysterium ist das bizarrste ungelöste Rätsel der Sowjetunion"
  • rbth.com: "Eine schockierende neue Theorie zum Unglück am Djatlow-Pass"
  • stern.de: "Djatlow-Tragödie: Diese drei Theorien werden nun untersucht - aber es sind nur drei aus 90"
  • sputniknews.com: "Mysteriöse Todesfälle am Djatlow-Pass: Ermittler enthüllen neue Details"
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