• Rund zwölf Prozent der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten zu viel. Sie machen Überstunden, teilweise auch mehrmals die Woche.
  • Für die Gesundheit kann das sehr schädlich sein, wie Dr. Manuela Sirrenberg im Interview mit unserer Redaktion erklärt.
  • Die Diplom-Psychologin erklärt auch, wie Betroffene mit Überstunden umgehen sollten und, wann es Zeit wird, die Reißleine zu ziehen.
Ein Interview

Frau Sirrenberg, rund 12 Prozent von fast 38 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland haben 2021 mehr gearbeitet als vertraglich vereinbart. Das ist mehr als jeder Zehnte. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?

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Manuela Sirrenberg: Wir wissen schon seit Langem aus Erfahrungen in der Praxis, dass es zunehmend zu Arbeitsverdichtung und auch zu einer Zunahme der Arbeitsintensität kommt, was sich dann auch in Überstunden widerspiegelt. Das liegt gerade in der letzten Zeit an Aspekten des Personalmangels, da durch die Corona-Pandemie auch Arbeitsverschiebungen stattgefunden haben. Seit Corona haben Überstunden und Mehrarbeit deshalb in vielen Bereichen zugenommen.

Besonders betroffen von Überstunden ist die Finanz- und Versicherungsbranche. Wieso gerade sie?

In Bereichen, in denen sich die Technologien in kurzer Zeit stark weiterentwickelt haben, wo Personalabbau stattgefunden hat und letztendlich die Arbeit auf weniger Schultern verteilt wird, ist der Mensch manchmal nicht so schnell wie die technische Entwicklung.

Wenn man von einer 40-Stunden-Woche ausgeht: Wie viele Überstunden sind dann zu viel aus gesundheitlicher Sicht?

Es gibt wissenschaftliche Studien, die sich damit beschäftigt haben und die zeigen: Aus gesundheitlicher Sicht äußern Beschäftigte mit Zunahme der Länge der Arbeitszeit mehr gesundheitliche Beschwerden. Wissenschaftliche Studien belegen, dass eine Wochenarbeitszeit von über 50 Stunden ein signifikant erhöhtes Risiko für gesundheitliche Beeinträchtigungen darstellt. Die Expertinnen und Experten von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, zeigen ebenfalls in ihren Berichten und Stellungnahmen, dass Beschäftigte mit überlangen Arbeitszeiten – von mehr als 48 Stunden pro Woche – deutlich häufiger angeben, gesundheitliche Probleme zu haben.

Selbst bei einer Arbeitszeit von 40 Stunden fühlen sich manche überlastet. Einige plädieren für eine Vier-Tage-Woche oder eine 35-Stunden-Woche.

Pauschal zu sagen, ab wann Arbeit zu viel ist, ist schwierig. Studien sprechen von Zusammenhängen: Mit einer Zunahme der Arbeitszeit gibt es auch mehr gesundheitliche Beschwerden. Es gibt schon bei 35 Stunden mehr Beschwerden als bei 30 Stunden. Demnach stellt sich die Frage: Wo setzt man an?

Sie haben gesagt, Überstunden können gesundheitliche Folgen haben. Welche?

Zu viele Überstunden oder das, was damit in Zusammenhang steht, etwa überlange Arbeitszeiten oder Schichtarbeit, führen zu mehr Unfällen. Denn wenn die Zeit für Erholung fehlt, kann es zu Konzentrationsmängeln kommen und es passieren eher Unfälle.

Welche Art von Unfällen sind das?

Das können Wege-Unfälle sein, also wenn etwas auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause passiert. Häufig sind auch Arbeitsunfälle aufgrund von Bewegungsabweichungen. Also zum Beispiel stolpern und die Treppe runterfallen. Gefährlich wird es vor allem bei Menschen, die körperlich arbeiten, zum Beispiel auf einem Gerüst oder beim Maschinenbedienen.

Und auch Erkrankungen hatten Sie bereits erwähnt.

Genau. Studien zeigen, dass Beschäftigte, die über längere Zeit Überstunden leisten, häufig unter Schlafstörungen und Rückenschmerzen leiden, was auch wieder daran liegt, dass die Zeit für Regeneration fehlt. Es können sich langfristig Krankheiten manifestieren. Das wären zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Auswirkungen, die sich meist als Erstes zeigen, sind Müdigkeit, psychische, aber auch physische Erschöpfung. Manche Beschäftigte zeigen auch Anzeichen einer depressiven Verstimmung.

Wie wichtig sind Pausen für die Gesundheit? Ist es problematisch, acht Stunden am Stück zu arbeiten?

Das sollte aus verschiedenen Gründen nicht sein. Einmal nicht, weil das Arbeitszeitgesetz Pausen zeitlich vorgibt. Allein aus arbeitsschutzrechtlichen Gründen sollte man keine acht Stunden durcharbeiten. Und: Wir brauchen Erholungszeit, wir brauchen Pausenzeiten. Das hängt auch immer davon ab, um welche Art der Tätigkeit es sich handelt. Bei körperlich sehr fordernden Tätigkeiten benötigt der Körper auch Erholungszeit, um zu regenerieren. Aber auch bei Arbeiten, bei denen man sich geistig sehr stark konzentrieren muss, braucht man auch Pausenzeiten. Denn wenn keine Pausen gemacht werden, sinkt die Konzentration und auch dann kommt es häufiger zu Unfällen und Fehlern. Wichtig ist nicht nur, dass man Pausen macht, sondern auch wie man die Pause gestaltet.

Trotz dieser möglichen Folgen von Überstunden bleiben Arbeitnehmer auch freiwillig länger im Büro. Was steckt dahinter?

Rechtlich gesehen sind Überstunden in der Regel fast immer oder überwiegend freiwillig. Denn sie dürfen nur in ganz bestimmten Situationen ohne das Einverständnis der Beschäftigten angeordnet werden. Warum einige doch länger bleiben, kann verschiedene Gründe haben. Dabei können individuelle Aspekte eine Rolle spielen. Es gibt eine Neigung zur Entgrenzung oder auch eine höhere Verausgabungsbereitschaft, weil die Beschäftigten zum Beispiel eine Beförderung oder eine bestimmte Position anstreben. Sehr häufig sind eine hohe Arbeitsintensität und Arbeitsverdichtung die Gründe, also wenn die vorgesehene Zeit nicht ausreicht, um die Arbeit zu erledigen. Dann kommen noch Erwartungen an sich selbst hinzu und manchmal auch eine gefühlte Erwartung der Führungskräfte. Das alles kann den Druck erhöhen, Überstunden zu machen.

Inwiefern spielt das Arbeitsumfeld dabei eine Rolle?

Aus der sozialpsychologischen Forschung wissen wir, dass soziale Normen einen ganz wesentlichen Einfluss auf das menschliche Verhalten haben. Menschen neigen dazu, sich am Verhalten anderer zu orientieren. Wenn man erlebt, dass alle Kolleginnen und Kollegen Überstunden machen, dass die Führungskräfte Überstunden als normal ansehen, dann kann sich ein Arbeitsumfeld entwickeln, das Druck auf die Beschäftigten ausübt, mehr zu arbeiten als vertraglich vereinbart.

Neben dem Arbeitsumfeld kann auch der Familien- und Freundeskreis ein schlechtes Umfeld darstellen?

Das kann in beide Richtungen gehen. Familie und Freunde können ebenfalls zu der Erwartung beitragen, Überstunden zu leisten. Vor allem, wenn alle viele Überstunden machen und das als etwas Normales erlebt wird. Familie, Freundinnen und Freunde können aber auch richtig gute Unterstützer*innen bei der Begrenzung von Überstunden sein, wenn sie eine Art Grenze formulieren und die Zeit und Aufmerksamkeit einfordern. Gerade sie sind auch ein schöner Grund, die Arbeit zu begrenzen.

Nicht jeder macht also bereitwillig Überstunden. Wieso fällt es dennoch oft schwer, Nein zu Aufgaben zu sagen, die die Arbeitszeit sprengen?

Das können die schon angesprochenen Gründe sein. Aber auch die Sorge vor negativen Konsequenzen könnte im Vordergrund stehen. Da spielen existenzielle Sorgen eine Rolle. Also, was passiert, wenn ich meine Arbeit nicht schaffe? Verliere ich meine Arbeit? Verliert das Unternehmen den Auftrag? Deswegen ist es wichtig, herauszufinden, was die Ursache für die Mehrarbeit ist. Auch für das Unternehmen ist das wichtig. Es geht darum, dass lange Arbeitszeiten eine Gefährdung für die Gesundheit der Beschäftigten darstellen. Und deswegen spielt in dem Zusammenhang auch die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung eine wichtige Rolle. Alle Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind dazu gesetzlich verpflichtet. Dabei wird ermittelt, welchen Gefährdungen durch psychische Belastung die Beschäftigten ausgesetzt sind. Und dafür müssen Maßnahmen ergriffen werden, um diese Gefährdungen zu vermeiden.

Wenn der Arbeitgeber aber nichts dagegen unternimmt, dass Arbeitnehmer länger arbeiten als vertraglich vereinbart: Ab wann sollte man das Gespräch suchen?

Die meisten von uns machen ab und an Überstunden. Aber wenn man merkt, dass die Zeit einfach nicht für die Aufgaben reicht und das nicht an kurzfristigen Spitzen liegt, sondern keine Änderung in Sicht ist, sollte man natürlich das Gespräch suchen. So frühzeitig wie möglich, bevor sich solche Entwicklungen einfach verstetigen.

Haben Sie einen Tipp, wie man es schafft, zu sich selbst Nein zu Überstunden zu sagen?

Es ist sinnvoll, die eigenen und tatsächlichen Erwartungen abzugleichen. Sich also die Frage zu stellen: Was leiste ich und was wird tatsächlich von mir erwartet? Das kann Klarheit schaffen. Außerdem kann es helfen, sich private Termine nach der Arbeit festzulegen und dadurch die Arbeitszeit zu begrenzen. Und was meiner Erfahrung nach sehr hilft, ist, sich über die gesetzlichen Vorgaben zu informieren. Viele Beschäftigte wissen nicht, was ihnen rechtlich zusteht, was das Arbeitszeitgesetz zum Thema Überstunden und Mehrarbeit besagt. Diese Informationen zu haben, bestärkt Beschäftigte häufig, Überstunden nicht einfach hinzunehmen. Da gibt es auch Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner, die einen dabei unterstützen, sich zu informieren. Zum Beispiel kann man den Betriebs- oder Personalrat ansprechen.

Jemand hat jetzt all das beachtet, was Sie an Tipps gegeben haben. Es wird aber einfach nicht besser. Ab wann sollte man die Reißleine ziehen und sich nach einem anderen Job umsehen?

Wenn man die Erfahrung macht, dass Gespräche nichts bringen, gibt es auch die Möglichkeit, Arbeitszeitverstöße bei den zuständigen Aufsichtsbehörden zu melden – das geht auch anonym. Idealerweise sollte man natürlich eine andere Arbeitsstelle suchen, bevor die Gesundheit unter den Arbeitsbedingungen leidet. Es ist menschlich, dass wir dazu neigen, erste kritische Anzeichen zu verdrängen oder einfach nur hoffen, dass es irgendwie schon von selbst wieder besser wird. Aber ein guter Hinweis darauf, dass es so nicht weitergeht, ist, wenn unser Umfeld uns das zurückspielt. Wenn die Familie und der Freundeskreis sich Sorgen machen, wenn man merkt, dass man sich zurückzieht, wenn die Kraft und Freude für das Privatleben schwindet.

Zur Expertin: Dr. Manuela Sirrenberg hat Psychologie studiert und promoviert. Sie arbeitet als Diplom-Psychologin im Sachgebiet Arbeits- und Umweltmedizin und -epidemiologie beim Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL). Seit 15 Jahren beschäftigt sie sich in ihrer Forschung und Praxis mit Themen psychischer Belastung bei der Arbeit. Sie berät Arbeitsschutzbehörden, bildet im Bereich der Arbeits- und Organisationspsychologie aus und ist mit Mitglied in verschiedenen Fachgremien.
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