Vor zwanzig Jahren wurde die damalige Deutsche Bundesbahn durch die Bahnreform zur Deutschen Bahn AG. Der Konzern wurde so gründlich umgebaut wie niemals zuvor. Sogar ein Börsengang war als langfristiges Ziel geplant. Was hat es genützt? Ist die Bahn heute besser als 1994? Eine Bilanz.
Irgendwo zwischen Hannover und Berlin Anfang der neunziger Jahre. Gemächlich rumpelt der Intercity (ohne Express) durch die Lande. Über zwei Stunden dauert die 250 Kilometer lange Strecke in alten Abteilwagen. Mit zirka 80 DM ist sie nicht gerade billig und vor der Fahrt musste man Schlange stehen - vor dem Fahrkartenschalter, an dem kein Internet oder Automatenverkauf vorbeiführte. Wer nicht rechtzeitig zum Bahnhof kam, hatte Pech.
Die Deutsche Bundesbahn war ein durch und durch behördlich organisierter Betrieb, ähnlich einem Einwohnermeldeamt oder einem Finanzamt. Und ihre Mitarbeiter waren Bahnbeamten, die zum Beispiel als Schaffner die hoheitlichen Aufgaben innerhalb der Waggons mit der Attitüde eines schlecht gelaunten Polizisten wahrnahmen.
Ein Staatsbetrieb, der bei höchst mittelmäßigen Leistungen dem Bund enorme Verluste bescherte. 16 Milliarden DM kosteten die Bundesbahn und die damals noch existente Reichsbahn der DDR den Steuerzahler im letzten Jahr vor der Bahnreform 1993. Mit der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft und einem späteren Börsengang sollten sich der Service verbessern, die Kosten durch effizientere Abläufe verringern und die Preise im Fernverkehr durch mehr Konkurrenz für die Kunden bezahlbar bleiben. Nur Vorteile für alle also. Zwanzig Jahre später hat sich gezeigt: Auch wenn niemand mehr zurück will zur Behörden-Eisenbahn, es sind längst nicht alle Träume Wirklichkeit geworden.
Saubere Bahnhöfe und Ruinen
Ein auf den ersten Blick erheblicher Pluspunkt der Bahnreform sind die vielen sauberen und oft top-renovierten Bahnhöfe. Ein Bahnhof, das konnte vor der Bahnreform ein dreckiges Loch sein. Mit einem kleinen Schalter, an dem hinter Panzerglas ein Beamter behäbig die Tickets für die anfallenden "Beförderungsfälle" ausstellte. Kacheln in Unterführungen waren gelb angelaufen. Öffentliche Bahnhofstoiletten besuchte der Normalbürger lieber nicht.
Gleiches galt für die in Jahrzehnten gewachsene Bahnhofs-Gastronomie. Zapfhahn, Kaiser-Eck und Co. - nicht selten sammelten sich rund um die Stationen heruntergekommene Etablissements für Teilzeit-Alkoholiker. Das Bahnhofsmanagement hatte die Deutsche Bundesbahn noch nicht erfunden.
Mit der Bahnreform und der privatwirtschaftlichen Organisation des Bahnkonzerns änderte sich das schlagartig. Schnell entdeckten die Bahn-Manager die großen Stationen als Einnahmequelle. Und als extrem lukrative Verkaufsflächen in bester Innenstadtlage. Aus den einstigen Tempeln der Mobilität sind in den letzten 20 Jahren Shopping-Mals geworden.
Wartehallen und zugige Schließfach-Labyrinthe verschwanden zugunsten von Fastfood-Ketten und Mode-Labels.
Gigantische Ausmaße nehmen die Verkaufsflächen in Stationen wie Leipzig ein, wo die "Reisenden" bis zu drei Stockwerke unter der Bahnsteigkante an sieben Tagen in der Woche shoppen können.
Schrott-Immobilien: kleine Bahnhöfe als Verlierer der Bahnreform
Die Modernisierung nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten hatte auch einen großen Haken, von der Verschandelung der Bahnhofsarchitektur ganz zu schweigen. Kleine Stationen ohne Laufkundschaft legte die neue Deutsche Bahn AG kurzerhand still. An die Stelle der klassischen Bahnhofsgebäude traten Bushaltestellen-Häuschen. Statt Karten-Schaltern findet man heute vielerorts lediglich einen Fahrkartenautomat. Wer mit dem Regionalexpress durchs Land fährt, sieht überall Ruinen, verfallene Bahnhöfe mit verrammelten Fenstern. Schrott-Immobilien als Verlierer der Bahnreform.
Veraltete Züge, verrottete Gleise
Auch beim rollenden Material fällt die Bilanz nach 20 Jahren Bahnreform zwiespältig aus. Mit der Bahnreform kamen die ICE, die in der ersten Generation seit 1993 neue Maßstäbe in Komfort und Schnelligkeit setzten. Richtig ist aber auch, dass die allermeisten der neuen Schnellzüge bereits zu Bundesbahn-Zeiten bestellt worden waren - auch die ICE der zweiten Generation, die seit 1996 planmäßig auf den deutschen Schienen eingesetzt werden.
Die Deutsche Bundesbahn mag ein behäbiger Betrieb gewesen sein, neue Züge bestellte sie regelmäßig - und die Zusammenarbeit mit der deutschen Industrie funktionierte. Mit der Bahnreform ändert sich das, weil das neue Unternehmen in den letzten 20 Jahren versäumte, ausreichend Züge nachzubestellen. Der heutige Mangel an rollendem Material ist eine direkte Folge der Reform. Die Intercity-Züge, mit denen heute der Betrieb jenseits der ICE-Trassen sichergestellt wird, sind ausnahmslos Relikte aus Bundesbahnzeiten, hochbetagt, störanfällig und muffig - trotz unzähliger Re-Designs.
Wenn Bahnchef Rüdiger Grube heute immer wieder der Industrie Versäumnisse bei der Lieferung neuer Züge vorwirft, ist das nur ein Teil der Wahrheit. Richtig ist auch, dass unter seinem Vorgänger Hartmut Mehdorn jahrelang Neubestellungen hinausgezögert worden sind, um die Bilanz für den geplanten Börsengang aufzuhübschen.
Ebenso wie Investitionen in die Erhaltung des Streckennetzes und vorbeugende Maßnahmen zum Winterschutz: Wer im Jahr 2010 während der großen Winter-Katastrophe der Bahn in veralteten IC-Waggons irgendwo zwischen Hamburg und Hannover wegen ausgefallener oder nicht vorhandener Weichen-Heizungen fest saß, war ein direktes Opfer der Bahnreform. Kaum zu glauben, zu Bundesbahn-Zeiten hatte das Unternehmen einst mit dem Slogan geworben: "Alle reden vom Winter. Wir nicht!"
Steigende Preise und fehlende Konkurrenz
Auch mit Blick auf die Preise und das Angebot hielt die Bahnreform längst nicht alles, was sich ihre Macher versprochen hatten. Mehr Wettbewerb führt zu einem besseren Angebot - für alle. Die Kernidee der Reform sah einen freien Zugang zum Bahn-Netz auch für andere Unternehmen vor. Wenn diese der alten Behörden-Bahn durch billigere oder bessere Angebote Konkurrenz machen würden, sei das ein Gewinn für alle, so glaubte man.
Weil das Netz aber weiterhin im Besitz des Bahnkonzerns blieb, wurde nichts aus dem schönen Traum, wenigstens im Personenverkehr. Bis heute gibt es lediglich eine Handvoll privater Fernverkehrsverbindungen. Der Staatskonzern verstand es in den letzten Jahren prächtig, die private Konkurrenz durch phantasievolle Trassen-Gebühren und Stationspreise vom Netzzugang fernzuhalten.
Gleichzeitig wurden die eigenen Preise permanent erhöht. Vor allem die ICE-Neubaustrecken brachten zwar enorme Geschwindigkeitsgewinne mit sich. Parallel zu den Neueröffnungen erhöhte die Bahn jedoch auf diesen Strecken die Normalpreise so enorm, dass sie für den Normalbürger heute oft nicht mehr erschwinglich sind. Da gleichzeitig zur Gewinnmaximierung günstigere Alternativen systematisch gestrichen worden sind, sank die Anzahl der Passagiere im Fernverkehr: von 133 Millionen im Jahr 1993 auf nur noch 114 Millionen im Jahr 2004.
Mit Einführung der zuggebundenen Sparpreise konnte die Bahn die Auslastung der Züge wieder erhöhen. Allerdings fuhren im Jahr 2012 mit 131 Millionen Passagieren immer noch weniger Menschen mit dem Fernverkehr der DB als 1993. Und das trotz eines in den letzten zwanzig Jahren enorm gestiegenen Gesamt-Verkehrsaufkommens.
Fernbus-Liberalisierung vollendet Bahn-Reform
Mit dem Aufkommen der Fernbus-Branche hat die Deutsche Bahn auf vielen Strecken zum ersten Mal seit ihrem Bestehen echte Konkurrenz bekommen. Die Busse fahren mit W-LAN und kostenlosem Audio-Video-Programm. Und sie sind oft komfortabler als die betagten Intercity-Waggons. Zwar sind die Busverbindungen fast immer langsamer, aber dafür auch für spontane Reisende viel billiger.
Die Konkurrenz zwingt den Staatskonzern heute zum Umdenken. Verkappte Preissenkungen, neue Verbindungen und komfortablere Züge. Es scheint, als vollende erst die Liberalisierung des Busmarktes den Wettbewerb zum Wohle aller - so wie ihn sich die Architekten der Bahn-Reform einst erträumten.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.