Die humanitäre Lage in Afghanistan ist weiterhin katastrophal: zu wenig sauberes Wasser und Essen, tiefe Armut und Umweltkatastrophen sind für die Menschen trauriger Alltag. Im Interview erzählt Daniel Timme, Kommunikationsleiter von UNICEF in Afghanistan welche Hilfe UNICEF leistet und was ihn an den Menschen in Afghanistan am meisten beeindruckt.

Ein Interview

Einfach nur Kind sein, morgens mit dem Schulranzen über der Schulter zur Schule gehen, mit den Freunden spielen, lernen und lachen, verschwitzt, aber glücklich nach Hause kommen und abends im eigenen Bett einschlafen – das ist in Afghanistan für viele Kinder unmöglich.

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Seit mehr als 40 Jahren ist das Land von Konflikten, politischen Unruhen, Gewalt und bitterer Armut geprägt. Hinzu kommen Extremwetter wie Sturzfluten und Dürren oder Umweltkatastrophen wie Erdbeben, die Häuser und Lebensgrundlagen zerstören. Erst 2023 kamen bei einem verheerenden Erdbeben mehr als 1.000 Menschen ums Leben, 96.000 Kinder waren danach auf Hilfe angewiesen. Daniel Timme, der derzeit in Kabul lebt, hat das Erdbeben selbst miterlebt. Für seine Arbeit spricht er regelmäßig mit Familien vor Ort.

Herr Timme, Sie sind seit einiger Zeit in Afghanistan und haben 2023 das Erdbeben hautnah miterlebt. Wie ging es den Menschen im Land danach?

Daniel Timme: Nach dem Erdbeben im Westen Afghanistans habe ich eine Familie besucht, die alles verloren hatte – ihr Haus war zusammengestürzt und drei ihrer sechs Kinder waren bei dem Erdbeben gestorben. Ein weiteres Kind war schwer verletzt und musste mit einer Eisenschiene im Bein herumlaufen. Und trotzdem hat diese Familie nicht aufgegeben. Sie haben direkt nach dem Unglück angefangen, ihr Haus neu aufzubauen.

Das klingt für die meisten von uns unvorstellbar.

Ja, das hat mich sehr beeindruckt. Wenn ein Kind stirbt, da möchte man erst mal nur Trauern. Aber dafür haben die Menschen hier keine Zeit - sie brauchten ein Haus, der Winter stand vor der Tür und sie hatten noch lebende Kinder. Bei dieser Familie gab es eine Widerstandsfähigkeit, die ich so selten gesehen habe.

Das Erdbeben war keine singuläre Katastrophe. In Afghanistan kommt es immer wieder zu solchen Umweltkatastrophen.

Zuletzt gab es Sturzfluten, bei denen mehrere Hundert Menschen ums Leben kamen. Was wir sehen, ist, dass solche Katastrophen in kürzeren Abständen immer intensiver stattfinden. Viele dieser Katastrophen sind unserer Meinung nach auf den Klimawandel zurückzuführen. Und das bedeutet für uns, dass wir uns darauf immer mehr vorbereiten müssen.

Klimaindex von UNICEF

  • Mit dem UNICEF-Klima-Risiko-Index [PDF] analysiert das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen erstmals die weltweiten Auswirkungen des Klimawandels auf Kinder. Der Bericht "Die Klimakrise ist eine Krise der Kinderrechte: Einführung des Klima-Risiko-Index für Kinder" zeigt anhand neuester Daten, in welchen Ländern wie viele Kinder und Jugendliche besonderen klima- und umweltbedingten Gefahren, Schocks und Belastungen ausgesetzt sind und wie diese Risiken sich wechselseitig verstärken.

Wie stellen Sie diesen Zusammenhang fest?

UNICEF hat 2021 einen Risiko-Klima-Index für Kinder entwickelt, in dem die weltweiten Auswirkungen des Klimawandels auf Kinder analysiert wurden. Da liegt Afghanistan weit oben. Hier in Afghanistan ist das Tragische, dass die Menschen nichts haben, um mit einer Umweltkatastrophe fertig zu werden. Das liegt vor allem an der wirtschaftlichen Lage, aber auch an der Bildung und an dem Versäumnis, in grundlegende Infrastruktur zu investieren.

"Wenn man nach einer Umweltkatastrophe kein sauberes Wasser hat, stirbt man innerhalb weniger Tage."

Daniel Timme

Was brauchen Menschen nach einer Naturkatastrophe als Erstes?

Wenn man nach einer Umweltkatastrophe kein sauberes Wasser hat, stirbt man innerhalb weniger Tage. Deshalb ist eine große Priorität, die Menschen damit zu versorgen. Außerdem sind Wasseraufbereitungsmittel wichtig, damit die Keime abgetötet werden. Wenn kleine Kinder schmutziges Wasser trinken, können sie schnell Durchfall entwickeln. Das kann tödlich ausgehen. Zusätzlich gibt es noch ein sogenanntes Bargeld-Transfer-Projekt.

Was bezwecken Sie damit?

Oft wissen die Menschen am besten, was sie in diesem Moment brauchen. Die bereits erwähnte Familie, die ich besucht hatte, konnte sich mit dem Geld einen kleinen Holzofen kaufen, damit sie warm blieben, denn sie haben unter Planen gelebt. Der Bargeld-Transfer hat sich nach Katastrophen als gutes Hilfsmittel bewährt.

Was leistet UNICEF in solchen Fällen noch?

Wir konnten im Fall des Erdbebens konkret Hilfe anbieten und das im ganzen Dorf. Wir haben ein Gesundheitszentrum aufgebaut, wo die Verletzten versorgt wurden. Zudem haben wir Notschulen eingerichtet, sodass die Kinder, zumindest im Grundschulalter, dort weiter unterrichtet werden konnten.

Kinder, die solche Ereignisse miterleben, sind sicherlich stark traumatisiert. Wie geht UNICEF damit um?

Die überlebenden Kinder der bereits erwähnten Familie mussten mit ansehen, wie ihre Schwestern umgekommen sind und waren selbst stundenlang unter den Trümmern. Für sie ist diese Situation mehr als schwierig und ihre mentale Gesundheit leidet sehr unter der Situation. UNICEF bietet in sogenannten Child-Friendly Spaces, also kinderfreundliche Zentren, psychologische und soziale Unterstützung an. Gleichzeitig haben die Kinder hier einen Ort, wo sie hoffentlich alles vergessen und spielen, singen und tanzen können.

Die Vereinten Nationen schätzen, dass 97 Prozent der Menschen in Afghanistan in Armut leben. Welche Rolle spielen die ökonomischen Verhältnisse bei solchen Umweltkatastrophen?

Wenn es zu Erdbeben, Sturzfluten oder Dürren kommt, dann ist es besonders schlimm, wenn die Menschen keine finanziellen Reserven haben, um damit fertig zu werden. Die ökonomische Situation hier ist sehr schlecht. Wir haben zudem sehr strenge Winter, da gehen die Temperaturen in manchen Gebieten bis minus 30 Grad Celsius. Das ist für Familien, die nicht heizen können oder kein Essen haben, eine große Bedrohung. In anderen Landesteilen ist Trockenheit ein großes Problem. Teilweise verweisen ganze Dörfer, weil die Menschen nichts mehr haben und wegziehen müssen. Wir müssen für diese Situationen gewappnet sein, zum Beispiel durch Lagerhäuser mit Hilfsgütern im ganzen Land. Wir versuchen auch, die Bevölkerung resilienter zu machen.

Wie kann man das schaffen?

Zum Beispiel über die Wasserversorgung: Anstelle von offenen Brunnen bauen wir Wasseraufbereitungs- und Pumpanlagen, die mit Solarstrom betrieben werden, weil es oft keinen Strom gibt. Das sind Sachen, die die grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigen und sie gleichzeitig besser auf Katastrophenfälle vorbereiten. Ein anderer Bereich wäre die Gesundheitsversorgung. Die versuchen wir zu dezentralisieren, das heißt, dass wir auch in sehr abgelegenen Gebieten sicherstellen, dass dort Gesundheitszentren vorhanden sind.

Aber dafür braucht es auch die entsprechende Infrastruktur. Ist das auch Aufgabe von UNICEF?

Wir haben als UNICEF ein gewisses Mandat. Das bedeutet, wir arbeiten in manchen Bereichen auch in der Infrastruktur, wie im Bereich Wasser. Wir kooperieren auch mit anderen Agenturen der Vereinten Nationen. Aber im Grunde, ist das die Aufgabe der de-facto Regierung.

Und wieso handelt diese nicht?

Damit kommen wir zum nächsten Problem: Die de-facto Regierung ist international nicht anerkannt. Deshalb haben die meisten Geber ihre Gelder eingefroren. Das ist im gewissen Maße auch nachvollziehbar. Aber wenn keine Gelder da sind, wird es natürlich schwierig, Dinge umzusetzen. Wir als UNICEF bemühen uns darum, dass nicht die Bevölkerung darunter leidet, denn die kann nichts für die politische Lage.

“Denn wenn wir präventiv handeln, dann brauchen wir nachher keine Leben zu retten.”

Daniel Timme

Was würde denn aus UNICEF Sicht gebraucht werden, um eine gewisse Stabilität im Land zu erzeugen?

Es müssen Menschen angelernt werden, die als Ärztinnen, Ärzte, Krankenpfleger- und pflegerin arbeiten können. Wir versuchen lokale Leute auszubilden, denn sie sprechen die Sprache und wissen, wie sie sich verhalten müssen, was hier eine große Herausforderung ist. Am wichtigsten ist für uns Prävention. Denn wenn wir präventiv handeln, dann brauchen wir nachher keine Leben zu retten. So eine Herangehensweise ist effektiver und vor allem kostengünstiger.

Afghanistan hat eine lange konfliktreiche Geschichte, hinzu kommen die Umweltkatastrophen, über die wir gesprochen haben. Sind die Menschen nicht langsam am Ende ihrer Kräfte?

Die Menschen hier sind einiges gewohnt, sie sind sehr widerstandsfähig, das ist wirklich beeindruckend. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sie trotzdem Hilfe brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen, das darf man nicht vergessen. Die Kraftreserven der Menschen in Afghanistan sind aufgebraucht.

Was gibt Ihnen Hoffnung, Herr Timme?

Die gute Nachricht ist, dass man den Menschen hier helfen kann. Die Programme von UNICEF können wirklich einen Unterschied bewirken, wie man bei der Familie, die vom Erdbeben betroffen war, gesehen hat. Es freut uns immer zu sehen, dass die Hilfe, durch Spenden zum Beispiel, auch wirklich ankommt.

Über den Gesprächspartner

  • Daniel Timme ist Kommunikations- und Advocacy-Leiter bei UNICEF in Afghanistan. Er ist für die Außenbeziehungen, insbesondere mit Gebern und Geberländern, zuständig. In seiner Arbeit versuchen er und sein Team immer wieder deutlich zu machen, was UNICEF in Afghanistan leistet und wie die ihnen anvertrauten Gelder eingesetzt werden. Er lebt in Kabul.

Verwendete Quellen

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