Jeder dritte nach Deutschland einreisende Flüchtling ist ein Kind oder Jugendlicher. Schätzungsweise 65.000 Flüchtlingskinder leben mit unsicherem Aufenthaltsstatus in Deutschland. Trotz ihrer schwierigen Lebenssituation erhalten diese Mädchen und Jungen nur unzureichende staatliche Unterstützung.
Sie leben mit ihren Familien oft jahrelang in Gemeinschaftsunterkünften ohne Privatsphäre. Medizinisch werden sie nur notdürftig versorgt. Bürokratische Hindernisse erschweren ihren Zugang zu Schulbildung. Das Handeln der Behörden widerspricht häufig den Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention. Zu diesem Ergebnis kommt die neue UNICEF-Studie "In erster Linie Kinder – Flüchtlingskinder in Deutschland", die vom Bundesfachverband Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V. (B-UMF) im Auftrag von UNICEF Deutschland erstellt wurde. Die Untersuchung beleuchtet umfassend die Situation der Kinder, die mit ihren Familien in Deutschland Zuflucht suchen.
"Wenn Flüchtlingskinder in Deutschland ankommen, ist ihnen vorher oft Schreckliches widerfahren", sagte Christoph Strässer, Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe bei der Vorstellung der Studie in Berlin. "Es ist unsere Pflicht dafür zu sorgen, dass sie in Deutschland ihre traumatischen Erfahrungen der Flucht überwinden, um wieder Kind sein zu können."
"Mädchen und Jungen, die in Deutschland Zuflucht suchen, erfahren in allen Lebensbereichen Zurücksetzung. Ihre Rechte auf umfassende Unterstützung und gleiche Chancen werden viel zu häufig missachtet", sagte Anne Lütkes, Vorstandsmitglied UNICEF Deutschland. "Flüchtlingskinder sind in erster Linie Kinder. Sie haben ihr Zuhause verloren und brauchen besondere Förderung."
"Gesetzgeber und Behörden vernachlässigen das Kindeswohl oft komplett, wenn sie über Aufenthaltsrechte entscheiden", ergänzte Thomas Berthold, Autor der Studie und Referent beim Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V. (B-UMF). "Das ist fatal, denn oft ist es die Lebenssituation der Kinder, die Familien zur Flucht bewegt."
Die Angst davor, dass Kinder zwangsrekrutiert werden, die Gefahr von Beschneidungen oder Zwangsverheiratungen, verschlossene Bildungswege oder die Gefahr, Opfer von Kinderhandel zu werden – dies alles sind kinderspezifische Fluchtgründe. So wie bei dem 14-jährigen Ehmal, der im Rahmen der Studie interviewt wurde. Seine Eltern flohen aus Angst um ihn aus Afghanistan nach Deutschland. Schutzgelderpresser hatten dem Vater mit der Entführung seines Sohnes gedroht.
In den meisten Verfahrensschritten des Ausländerrechts existieren keine adäquaten Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder. Andererseits fungieren Jugendliche und manchmal sogar Kinder als Dolmetscher oder Mittler zu Behörden und übernehmen so eine Rolle innerhalb der Familie, die sie überfordert. So übernahm Abbas aus dem Libanon nach der Flucht der Familie mit 13 Jahren die Rolle seines Vaters, der in Deutschland keinen regulären Aufenthaltstitel erhielt und seine Familie deshalb nicht unterstützen konnte – sei es bei Behördengängen oder der Schulsuche.
Nach der UN-Kinderrechtskonvention, die von Deutschland ebenso wie von fast allen Staaten der Welt ratifiziert ist, muss das Kindeswohl in allen Kinder betreffenden Maßnahmen vorrangig berücksichtigt werden. Die Studie "In erster Linie Kinder", für die schriftliche Quellen zur Lebenssituation von Flüchtlingskindern sowie persönliche Interviews mit Betroffenen und Experten ausgewertet wurden, zeigt jedoch, dass diese Kinder in der deutschen Realität regelmäßig in allen Lebensbereichen benachteiligt werden:
- Flüchtlingskinder sind oft in Unterkünften untergebracht, die ihnen und ihren Familien wenig Raum für Privatsphäre lassen, sie leben in beengten Verhältnissen mit fremden Personen. Innerfamiliäre Konflikte sind oft nicht ohne die Anwesenheit Dritter zu besprechen. Darunter leiden insbesondere Jugendliche in der Pubertät.
- Die medizinische Versorgung der Mädchen und Jungen ist auf die Behandlung "akuter Erkrankungen und Schmerzzustände" reduziert. Jede Untersuchung bedarf einer behördlichen Genehmigung. Beides hat immer wieder zu für die Gesundheit
der Kinder gefährlichen Verzögerungen geführt. Psychosoziale Hilfen, um seelische Traumata zu lindern, sind kaum erreichbar – obwohl die Ungewissheit, ob sie bleiben können oder ausgewiesen werden, den Kindern oft zusätzlich schadet.
- Im Asylbewerberleistungsgesetz ist das Sachleistungsprinzip verankert. Kommunen können Essenspakete an Flüchtlinge verteilen, statt ihnen eine eigenständige Versorgung zu ermöglichen. Eine kindgerechte Ernährung ist so nicht immer möglich. Auch ermöglicht das Gesetz Sanktionen, um Leistungen auf ein Minimum zu reduzieren. Von diesen Einschränkungen sind die Kinder besonders stark betroffen.
- Die Einschulung in eine deutsche Schule stellt für Flüchtlingskinder eine große Hürde dar. Es stehen nicht genügend Schulplätze und nicht genügend passende Sprachlernangebote zur Verfügung. Auch die Kinder- und Jugendhilfe erreicht Flüchtlingskinder oft nicht, bzw. nimmt sie nicht als Zielgruppe wahr.
Vor diesem Hintergrund fordert UNICEF Deutschland:
- Flüchtlingskinder sind in erster Linie Kinder, die unter schwierigen Bedingungen aufwachsen. Sie brauchen besonderen Schutz und besondere Förderung, um die gleichen Chancen zu haben wie ihre Altersgenossen.
- Ausländerrechtliche Verfahren, die Kinder betreffen, müssen am Kindeswohl ausgerichtet sein. So muss die Anhörung von Kindern und Jugendlichen im Asylverfahren kindgerecht gestaltet werden – mit entsprechend dafür geschulten Mitarbeitern.
- Auch für Flüchtlingskinder muss umfassende medizinische Versorgung, Bildung, angemessene Unterkunft und soziale Unterstützung sichergestellt sein.
- Ankommende Flüchtlinge müssen über das bestehende Leistungsangebot ausführlich informiert werden. Beratungsstellen müssen so ausgestattet sein, dass sie aktiv auf die Kinder und ihre Familien zugehen können, um ihnen gezielt zu helfen.
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