- Der Stundenlohn in Werkstätten beträgt im Durchschnitt ein bis zwei Euro – Mindestlohnforderungen werden lauter.
- Experten wollen die Einrichtungen radikal reformieren.
- Die UN sehen das Recht auf Teilhabe, Selbstbestimmung und Gleichstellung in Werkstätten für Beeinträchtigte nicht erfüllt.
Behindertenwerkstätten sollen Menschen mit Handicap die Teilhabe am Arbeitsmarkt ermöglichen, um sie, sofern geeignet, in die normale Arbeitswelt zu integrieren. Doch seit einigen Jahren gibt es Kritik am Konzept. In Deutschland arbeiten rund 320.000 Menschen in knapp 3.000 Standorten von Behindertenwerkstätten.
Wer kann, schraubt Elektroteile zusammen, fährt Gabelstapler in einer Lagerhalle oder packt Versandpakete. Tätigkeiten, die sie später "draußen" bei Unternehmen anwenden können. Das Ziel: ein eigener Arbeitsvertrag. Doch wie gut gelingt die Integration in den ersten Arbeitsmarkt tatsächlich?
Behindertenwerkstatt: Ziel ist, sie "draußen" auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren
Wer in einer Behindertenwerkstatt arbeiten möchte, muss zunächst eine Aufnahme beantragen. Antragsteller/innen sind meist Abgänger/innen von Förderschulen, also Menschen, die aufgrund ihrer geistigen Beeinträchtigung mehr gefördert und unterstützt werden müssen. In den Werkstätten arbeiten sie dann in bestimmten Fachbereichen meist 6,5 Stunden netto am Tag, 37,5 Stunden in der Woche.
Ihr Vollzeitjob ist schlecht bezahlt: Pro Stunde verdienen sie weniger als zwei Euro. Dazu gibt es noch eine Grundsicherung vom Staat. Nach zwei Jahren Arbeit in den Werkstätten ist es möglich, in den richtigen Arbeitsmarkt eingegliedert zu werden. Wer das nicht möchte oder kann, erhält nach 20 Jahren Werkstatt eine lebenslange Rente wegen voller Erwerbsminderung. Deutschlands größte Behindertenwerkstatt sind die Elbe-Werkstätten.
Rolf Tretow, Sprecher der Geschäftsführung, erklärt den Grundgedanken des Konzepts genauer: "Die Idee ist, dass bei uns Menschen mit einer kognitiven oder psychischen Beeinträchtigung beschäftigt sind, die bei einem Arbeitgeber auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht länger als drei Stunden am Stück arbeiten könnten. In den Werkstätten wird im Gegensatz dazu nicht permanent Leistung abgefordert. Jemand kann sagen: 'Ich kann jetzt nicht, ich bin müde'. Es herrscht also kein Druck, schnell zu sein."
Es gilt das Solidaritätsprinzip: Alle Mitarbeiter erhalten monatlich den gleichen Grundlohn von 161 Euro, unabhängig davon, ob sie viel oder wenig leisten können. Dazu kommt je nachdem, wie wirtschaftlich erfolgreich die Werkstatt ist, eine Zulage. Diese orientiert sich unter anderem an den Anforderungen des Arbeitsplatzes. Sie beträgt bei den Elbe-Werkstätten 270 Euro; im Durchschnitt liegt sie bei rund 220 Euro im Monat.
Rechte von Beeinträchtigten in Werkstätten nicht ausreichend reflektiert
Doch steht dieses Konzept wirklich für Inklusion? Ginge es nach der UN, lautete die Antwort Nein. Gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention von 2008 basiert Inklusion auf Selbstbestimmung, Teilhabe und Gleichstellung beeinträchtigter Menschen.
Dazu gehört selbst zu entscheiden, welchen Beruf man erlernen möchte, das Recht auf Arbeit, das Recht, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen sowie das Recht, so zu leben wie alle Menschen. Diese Rechte sieht die UN in Behindertenwerkstätten nicht reflektiert. Deshalb empfahl sie im Jahr 2015, diese schrittweise abzuschaffen.
Kaum Chance auf normale Ausbildung
Wer zum Beispiel einen bestimmten Beruf erlernen möchte, kommt in einer Behindertenwerkstatt nicht weit. Eine Ausbildung erhalten die wenigsten Angestellten, was ein Nachteil ist, wenn sie sich später um einen normalen Arbeitsplatz bemühen möchten.
Inklusionsaktivist Lukas Krämer, der früher selbst in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet und als Kind eine Hirnhautentzündung hatte, ärgert das. "Die Werkstatt bietet nicht automatisch eine Ausbildung. In der Regel arbeitet man einfach mindestens zwei Jahre in einem bestimmten Fachbereich. Zugang zu einer normalen Ausbildung haben nur die, die auch einen normalen Schulabschluss gemacht haben. Mit Inklusion hat das nichts zu tun."
Zwar gibt es immerhin seit langem Bildungsrahmenpläne, die eine gewisse berufliche Bildung in den Werkstätten sicherstellen. Als normale Ausbildung anerkennt werden diese jedoch nicht. "Die Werkstätten bemühen sich bereits seit Jahren, dass die Qualifizierung im Berufsbildungsbereich wie jede andere Ausbildung anerkannt wird. Leider sind Gesetzgeber und die Kammern bei der Umsetzung dieser Forderung sehr zögerlich", berichtet Rolf Tretow.
Ein Stundenlohn, der kein selbstbestimmtes Leben zulässt
Ebenso in der Kritik: Der geringe Monatslohn, der es in Werkstätten beschäftigten Menschen nicht erlaubt, finanziell selbstständig ihr Leben zu führen. Lukas Krämer hat dafür kein Verständnis. Er fordert für alle Werkstattangestellten, die netto 6,5 Stunden am Tag arbeiten können und nicht auf besondere Betreuung oder Pflege angewiesen sind, den Mindestlohn.
"Der aktuelle Lohn ist unfair. Viele bekommen in den Werkstätten nicht die Möglichkeit, ein gutes Einkommen zu erzielen, obwohl sie fast voll arbeiten," erzählt er. Das Recht so zu leben wie alle bleibe ihnen folglich verwehrt. "Diese Vollzeitarbeit, von der man nicht leben kann, nennt man dann 'Teilhabe'. Wer Vollzeit arbeiten geht, der sollte aber einen Lohn erhalten, von dem er leben kann."
Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, hat der Aktivist jüngst eine Petition für Mindestlohn in Behindertenwerkstätten gestartet. 167.000 Menschen haben diese bereits unterzeichnet.
Falsche Anreize sind ein großes Problem
Nur 1.500 der 320.000 deutschlandweit in Werkstätten Beschäftigten schafft es am Ende auf den ersten Arbeitsmarkt, obwohl genau das ein zentrales Ziel der Werkstätten ist. Woran liegt das?
Die Antwort ist simpel: Behindertenwerkstätten erhalten meist einen Zuschuss pro Angestelltem, anstelle einer Pauschale für den gesamten Betrieb. Das führe zu Fehlanreizen, beklagt Lukas Krämer: "Deshalb fehlen der Werkstatt die Anreize, eine Person rauszufördern. Mit jedem vermittelten Angestellten verlieren sie ja einen Teil ihrer Förderung."
Er bedauert zudem, dass sich viele Beeinträchtigte aufgrund falscher Versprechungen in den Werkstätten anmelden. "Sie lassen sich vom Lockangebot blenden, dass man nach 20 Jahren automatisch eine kleine Rente erhält. Das ist in meinen Augen Ausbeutung. Die meisten kommen da dann nicht mehr heraus."
Anders läuft es in Hamburg: Hier gibt es ein pauschales Budget für die Werkstatt, das unabhängig von der Zahl der Angestellten gezahlt wird. Rolf Tretow ist sich sicher, dass mittlerweile alle erkannt haben, dass sich hier etwas ändern muss. Für ihn ist klar: "Das System, wie es gegenwärtig ist, muss durchbrochen werden. Unsere Angestellten haben ein Recht auf Arbeit und sie sollen die Chance auf mehr Lebensqualität und echter Teilhabe erhalten."
Vielversprechende Ansätze: Job-Coaches und Außenarbeitsplätze
Ein sinnvoller Schritt in die richtige Richtung: Job-Coaches im Rahmen des Programms "Budget für Arbeit". Immer mehr Werkstätten setzen darauf. Die Integrationsbegleiter werben in Unternehmen dafür, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Werkstätten bei sich einzustellen. Die Jobs werden je nachdem bis zu 75 Prozent staatlich bezuschusst.
Rolf Tretow setzt aber nicht nur auf Job-Coaches. Er geht in Sachen Inklusion noch einen Schritt weiter. "Wir fragen die Firmen, ob unsere Angestellten nicht direkt bei ihnen in den Räumlichkeiten arbeiten können. 33 Prozent unserer Arbeitsplätze haben wir bereits so ausgelagert. Dabei arbeiten unsere Leute dort erst in Gruppen, später gibt es Einzelarbeitsplätze. Das ist dann für viele das Sprungbrett." Er erzählt, dass bereits über 100 der dort beschäftigten Menschen später über das "Budget für Arbeit" einen Arbeitsvertrag erhalten haben. "Wir machen uns darüber hinaus auch noch Gedanken über stärkere Unterstützungssysteme für Unternehmen. Wir denken zum Beispiel in Hamburg darüber nach, dass Firmen ganze Inklusionsabteilungen gründen, die automatisch einen dieser Job-Coaches integrieren", berichtet Rolf Tretow.
Wichtig sei für ihn, dass Menschen, die gerne aus der Werkstatt auf den ersten Arbeitsmarkt wollen, auch schnell ein Angebot bekommen. "Ziel muss es sein, dass wir diejenigen, die raus wollen, unterstützen", so der Sprecher der Geschäftsführung der Elbe-Werkstätten.
Die Gesellschaft muss anfangen, echte Inklusion zu leben
Trotz dieser Bemühungen würde Inklusionsaktivist Lukas Krämer Behindertenwerkstätten am liebsten abschaffen. Für ihn ist klar: Es geht besser ohne. Seine Vision: Beeinträchtige Menschen und nicht beeinträchtigte Menschen sollten sich schon ab dem Kindergartenalter ständig im Alltag begegnen und einander kennenlernen und darüber Verständnis füreinander entwickeln. Nur so könne eine Gesellschaft Inklusion lernen und zusammenwachsen. "Gemeinsame Erfahrung und der Abbau von Berührungsängsten ist wichtig, Bildung ist wichtig, Schulabschluss ist wichtig", sagt er.
Klar ist: Das Konzept der Behindertenwerkstätten muss sich radikal wandeln und dem Wunsch nach mehr Selbstbestimmung und Teilhabe nachkommen. Rolf Tretow sieht da alle Teilnehmer unserer Gesellschaft in der Pflicht: "Dafür müssen alle mit anpacken: Die Unternehmen müssen sich mehr für Beeinträchtige öffnen, die Werkstätten müssen sich mehr anstrengen, ihre Angestellten auf den ersten Arbeitsmarkt zu bringen und jedem von uns muss es wichtig sein, dass beeinträchtigte Menschen in Würde am Alltag teilhaben können."
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