2015 fliegt der VW-Abgasskandal auf. 2020 streiten Diesel-Käufer immer noch für ihr Recht - und um ihr Geld. Ein Grundsatz-Urteil könnte ihnen nun den Weg ebnen. Für viele andere kommt es zu spät.
Die finanziellen Folgen dürften schmerzhaft sein, der Imageschaden erst recht: Im Dieselskandal droht VW vor dem Bundesgerichtshof (BGH) eine heftige Niederlage. Nach langem Warten wird in Karlsruhe am Montag das erste höchstrichterliche Urteil verkündet. Es ist eine entscheidende Weichenstellung - und die Tendenz ist schon absehbar. (Az. VI ZR 252/19)
Was entscheiden die obersten Zivilrichter?
Unstrittig ist, dass VW Millionen Fahrzeuge mit einer illegalen Abgastechnik ausgestattet hat. Aber hat der Autobauer seine Kunden damit auch vorsätzlich sittenwidrig geschädigt? Wenn ja, müsste der Konzern klagenden Käufern Schadenersatz zahlen. In der Verhandlung vor knapp drei Wochen haben die Richter schon durchblicken lassen, dass es darauf hinauslaufen dürfte. Allerdings, so ihre vorläufige Einschätzung, gibt es gegen Rückgabe des Autos wohl nicht den vollen Kaufpreis zurück. Klagende Diesel-Besitzer müssten sich die gefahrenen Kilometer als Nutzungsentschädigung anrechnen lassen.
Wer würde von so einem Urteil profitieren?
Kläger wie Herbert Gilbert aus Rheinland-Pfalz, dessen Fall nun als erster vor den BGH-Richtern gelandet ist. Seinen VW Sharan kaufte er 2014 von einem freien Händler, gebraucht, für knapp 31.500 Euro. Als im Herbst 2015 der Dieselskandal auffliegt, fühlt er sich getäuscht. Auch in seinem Auto steckt ein Motor vom Typ EA189, dessen illegale Technik dafür sorgt, dass der Wagen die Abgas-Grenzwerte nur auf dem Prüfstand einhält und nicht auf der Straße. Hätte er das gewusst, hätte er den Sharan nie gekauft, sagt Gilbert - und klagt. Er will, dass VW das Auto zurücknimmt und ihm den vollen Kaufpreis erstattet.
Wie wirkt sich die Nutzungsentschädigung aus?
Gilberts Auto ist nicht viel gefahren. Beim Kauf hat es 20.000 Kilometer auf dem Tacho. Als das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz 2019 seinen Fall verhandelt, sind es gut 72.000 Kilometer. Die OLG-Richter kommen zu dem Schluss, dass Gilbert von VW gezielt getäuscht wurde. Er habe darauf vertraut, ein einwandfreies und umweltfreundliches Auto zu kaufen. Tatsächlich sei es ohne das vom Kraftfahrt-Bundesamt angeordnete Software-Update von der Stilllegung bedroht. Trotzdem: Gilbert habe das Auto mehrere Jahre gefahren, also auch einen Vorteil gehabt. Das muss er sich anrechnen lassen. Im Ergebnis sprechen ihm die Richter genau 25.616,10 Euro nebst Zinsen zu.
Welche Auswirkungen hat das BGH-Urteil?
Bundesweit gibt es viele Tausend ähnlich gelagerte Fälle, die noch nicht rechtskräftig entschieden sind. Spricht der BGH Gilbert Schadenersatz zu, würde das die Erfolgsaussichten der anderen Kläger schlagartig verbessern - und endlich für Klarheit sorgen. Denn an den höchstrichterlichen Entscheidungen aus Karlsruhe orientieren sich alle Gerichte der unteren Instanzen. Bisher wurde die Frage, ob VW Schadenersatz schuldet, überall unterschiedlich beantwortet. Gut viereinhalb Jahre nach Bekanntwerden der Software-Manipulationen werden die ersten BGH-Urteile deshalb sehnsüchtig erwartet.
Wem hilft das Urteil noch und wem nicht?
Wichtig ist, dass längst nicht alle betroffenen Diesel-Käufer Schadenersatz bekämen. Nur wer selbst geklagt hat, kann überhaupt profitieren. Und Grundvoraussetzung ist auch hier, dass über die Klage noch nicht abschließend geurteilt wurde. Laut VW sind aktuell noch rund 60.000 Verfahren anhängig, also weder rechtskräftig entschieden noch per Vergleich beendet. Mit einem kundenfreundlichen BGH-Urteil im Rücken könnten viele Kläger ihr Verfahren zwar deutlich schneller zu einem Ende bringen. Ein eigenes Urteil wäre aber nach wie vor notwendig. Weiterhin möglich wäre auch, dass VW sich mit Klägern auf einen Vergleich einigt, also ohne Urteil Geld zahlt.
Worauf stellt sich Volkswagen ein?
"Anlass für neue Klagen wird es kaum geben", betont der Konzern. Wer sich an der Musterfeststellungsklage der Verbraucherzentralen gegen VW beteiligt und den bereits ausgehandelten Vergleich angenommen hat, verzichtet damit auf weitere Ansprüche, kann also nicht mehr klagen. Und dafür haben sich viele entschieden: Nach Konzern-Angaben wurden inzwischen rund 240.000 Vergleiche abgeschlossen, nur rund 1.000 wurden widerrufen. Fälle, in denen bis heute nicht geklagt wurde und die auch nicht zum Musterverfahren angemeldet waren, sind nach Auffassung von Volkswagen inzwischen verjährt.
Wie geht es nach dem Urteil weiter?
Der BGH hat für Juli bereits die nächsten Verhandlungen angesetzt. Denn der Fall Gilbert ist zwar beispielhaft. Es gibt aber auch noch andere Konstellationen. Manche Kläger haben ihr Auto erst gekauft, als der Dieselskandal schon bekannt war. Manche haben nicht gegen VW, sondern gegen ihren Autohändler geklagt. Die einen haben das Software-Update aufspielen lassen, die anderen nicht. Wieder andere haben ihr Auto geleast und nicht gekauft. Und dann gibt es auch noch zahlreiche Klagen gegen andere Autohersteller - etwa gegen Daimler. © dpa
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