Deutschland ist auf die rasant wachsende Zahl von Pflegebedürftigen nicht vorbereitet – weder personell noch finanziell. Das zeigen aktuelle Zahlen und Prognosen. Die Politik ringt derweil um Lösungen. Insbesondere geht es um Finanzierungsmodelle, denn anderenfalls dürften die Beitragszahler die Kosten in Milliarden-Höhe alleine schultern.

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Die Abgabelast für Bürgerinnen und Bürger hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Einer RWI-Studie von 2017 zufolge stieg die Gesamtbelastung seit 2010 stetig. In Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) lag sie 2010 demzufolge bei 37,9 Prozent. "Im Jahr 2016 haben Deutschlands Steuerzahler 1.250 Milliarden Euro an den Staat entrichtet, das sind 40 Prozent des BIP", heißt es weiter.

Bereits mittlere Jahreseinkommen sind hoch belastet. So müssen Arbeitnehmerhaushalte ab einem Bruttoeinkommen zwischen 40.000 und 50.000 Euro pro Jahr rund 48 Prozent ihres Einkommens an den Staat abgeben – so das Ergebnis. Und aktuelle Zahlen und Prognosen lassen vermuten: Abgaben und Steuern werden weiter steigen.

Verantwortlich machen die Analysten neben einer gestiegenen Steuerlast (etwa die Erhöhung der Tabak- oder Grunderwerbsteuer) auch hohe Sozialabgaben. Besonders deutlich zeigt sich das anhand des Beitrags zur Pflegeversicherung. Aufgrund des demografischen Wandels und seinen Folgen ist der Beitragssatz von einst 1,0 Prozent (1995) auf mittlerweile 3,05 Prozent beziehungsweise 3,30 Prozent (für Kinderlose) gestiegen.

Die Pflege wird Milliarden verschlingen

Eine Schätzung der Bertelsmann Stiftung* zufolge wird der Beitragssatz bis 2045 auf 4,25 Prozent steigen. Das wären für ein heutiges Durchschnittseinkommen fast 550 Euro mehr im Jahr.

Die voraussagbaren Ausgaben, so die Analysten der Stiftung weiter, würden von derzeit 38,5 Milliarden Euro bis zum Jahr 2045 auf schwindelerregende 144,9 Milliarden Euro steigen. Verantwortlich für den steigenden Finanzierungsbedarf seien mehrere Faktoren. Zum einen rechnen die Experten mit einem Anstieg der Leistungsempfänger von momentan 3,3 Millionen auf 5 Millionen Menschen in 2045.

Eine Studie der Uni Köln geht ebenfalls von einer großen Zunahme aus. Die Experten rechnen mit gut vier Millionen Pflegefällen in 2035. Dabei sei der Zuwachs vor allem in den bevölkerungsreichsten Bundesländern zu erwarten: Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg.

Zum anderen gehen die Analysten der Bertelsmann-Studie davon aus, dass die reine Angehörigenpflege künftig weiter an Bedeutung verlieren und im Gegenzug die professionelle Pflege an Bedeutung gewinnen wird. Dies wiederum würde aufgrund potenzieller Lohnanstiege zu überdurchschnittlichen Kostensteigerungen führen.

Was Pflegekräfte verdienen

Im Jahr 2018 betrug das durchschnittliche Bruttojahresgehalt (Median) einer Altenpflegerin oder eines Altenpflegers im Alter von über 50 Jahren dem Statistikportal Statista zufolge 30.138 Euro. Für Beschäftigte in Pflegeheimen wurde der Mindestlohn zum 1. Januar 2019 angehoben – um 50 Cent pro Stunde. Für den Westen und Berlin gilt ab sofort ein Stundenlohn von mindestens 11,05 Euro und für den Osten eine Mindestgrenze von 10,55 Euro pro Stunde.

Aktuell laufen die Vorbereitungen für einen Tarifvertrag Altenpflege. Die Gewerkschaft Verdi fordert einen Stundenlohn von mindestens 16 Euro für Fachkräfte, für Pflegehilfskräfte soll dieser mindestens 12,84 Euro betragen. "Um das gesellschaftlich wichtige Feld der Altenpflege attraktiv zu machen, brauchen wir mehr Personal und eine gute Bezahlung", betonte Verdi-Vorstandsmitglied Sylvia Bühler.

Wie viele Pflegekräfte gibt es?

Ein angenommener Anstieg an Leistungsempfängern führt außerdem zu einem größeren Bedarf an Fachkräften, was wiederum mit zusätzlichen Kostensteigerungen einhergehen wird. 2018 arbeiteten mehr als 580.000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte im Bereich Altenpflege. Das sind etwa 130.000 mehr als 2012.

Zugleich ist einem Medienbericht zufolge die Zahl der offenen Stellen erstmals seit fünf Jahren zurückgegangen. Von Dezember 2017 bis Dezember 2018 sei sie von 24.279 auf 22.950 gesunken, berichtete die "Rheinische Post" unter Berufung auf eine Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Im Dezember 2013 betrug die Zahl der offenen Stellen in der Pflege demnach 12.826 und stieg seitdem bis Dezember 2017 kontinuierlich an.

Der größte Mangel herrscht an Fachkräften. Im Dezember 2018 lagen der Bundesagentur für Arbeit 14.449 offene Stellen für Altenpflegefachkräfte vor, schreibt die "Rheinische Post". Es fehlten außerdem 8.290 Helfer, 117 Spezialisten und 94 Experten.

Wie ist die Stimmung?

Die aktuelle Situation macht sich auch im "Care-Klima-Index" bemerkbar. Der Umfrage im Auftrag des Deutschen Pflegetags zufolge wird die Stimmung bei den Pflegekräften, Ärzten, Pflegebedürftigen, Angehörigen sowie Vertretern von Kassen und Verbänden immer schlechter. So beurteilten im vergangenen Jahr etwa 29 Prozent der Befragten die Qualität der Pflege nur als "mangelhaft" (2017: 24 Prozent).

"Es hat sich seit der letzten Befragung gezeigt, dass die Stimmung in der Pflege abgekühlt ist", sagte die Leiterin des Forschungsprojekts, Stephanie Hollaus. Obwohl das Thema Pflege im vergangenen Jahr viel diskutiert wurde, finden 74 Prozent der Befragten, dass dem Bereich in der Politik nicht ausreichend Beachtung geschenkt wird (2017: 69 Prozent). Auch die Arbeitsbedingungen werden von 60 Prozent der Befragten als schlecht eingestuft (2017: 51 Prozent).

Kampf gegen den Fachkräftemangel

Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, betonte, die Pflege stehe oben auf der politischen Agenda – die bereits verabschiedeten Gesetze würden dies belegen. So hatte der Bundesrat im November 2018 das Gesetz zur Stärkung der Pflege gebilligt.

Das Sofortprogramm sieht in der stationären Altenpflege 13.000 neue Stellen vor. Ausbildungsvergütungen für angehende Pflegekräfte sollen im ersten Ausbildungsjahr von den Krankenkassen übernommen werden. Pflegepersonalkosten der Krankenhäuser sollen aus den bisher geltenden Fallpauschalen herausgenommen und vollständig refinanziert werden. Dies gilt auch bei Personalaufstockungen und Tariferhöhungen.

Um die drängendsten Probleme zu lösen, hatte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) versprochen, "alle Register zu ziehen". Dazu gehört, dass er künftig im Ausland Pflegekräfte ausbilden lassen will. "Vom Haushaltsausschuss haben wir noch einmal insgesamt neun Millionen Euro bekommen. Damit können wir Kooperationspartner für Pflegeschulen im Ausland finden", sagte Spahn der "Rheinischen Post".

Der Plan sei, im Ausland auszubilden und die künftigen Fachkräfte schon dort Deutsch lernen zu lassen. "Idealerweise sollen sie dann mit Ende der Ausbildung in Deutschland ihre Arbeit starten können", betonte der Gesundheitsminister. Als mögliche Länder für eine Kooperation nannte Spahn den Kosovo, Mazedonien, die Philippinen oder Kuba.

In den Fokus rückt zunehmend die Digitalisierung der Pflege unter dem Stichpunk "Pflege 4.0". Das Gesundheitsministerium bestätigte in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion das große Potenzial. Wie hoch allerdings der Investitionsbedarf aussieht, darüber hüllt sich die Regierung in Schweigen. Auf die Frage teilte das Ministerium lapidar mit, dass hierzu "keine detaillierten Informationen" vorlägen. Außerdem sei ein Großteil der Kosten Sache der Länder.

Wie das "Handelsblatt" berichtet, rechnet der Deutsche Pflegerat mit einem mehrstelligen Milliardenbedarf. Vielerorts gleiche die Pflege einer Digitalisierungswüste, beklagte Irene Maier, Vizepräsidentin des Deutschen Pflegerats, in dem Finanzblatt. Zugleich warnte sie davor, allein auf eine Finanzierung durch die Länder zu vertrauen.

Allerdings sieht das neue Gesetz Mittel zur Finanzierung digitaler Investitionen vor: "Aus Mitteln des Krankenhausstrukturfonds wird auch der Einsatz digitaler Anwendungen gefördert, die zu strukturellen Verbesserungen der stationären Versorgung führen, wie etwa die telemedizinische Vernetzung von Krankenhäusern, sowie die Schaffung neuer Ausbildungskapazitäten für Pflegepersonal", heißt es darin.

Finanzierung ist größte Herausforderung

Angesichts der enormen finanziellen Herausforderungen will Spahn nun die Finanzierung der Altenpflege reformieren. Er gehe davon aus, dass der Beitragssatz bis 2022 stabil bleiben könne. Angesichts von immer mehr Hilfeempfängern werde aber auf Dauer auch mehr Geld gebraucht.

"Wenn die Beiträge nicht immer weiter steigen sollen, dann wird man auch über andere Finanzierungsmodelle diskutieren müssen", sagte Spahn der "Bild"-Zeitung. Er wolle einen offenen Dialog darüber, daher habe er sich noch nicht auf ein konkretes Finanzierungsmodell festgelegt.

Erste Reaktionen folgten. So sprach sich der stellvertretende SPD-Fraktionschef Karl Lauterbach für eine gemischte Finanzierung aus Steuermitteln und Beiträgen aus. Beamte und Privatversicherte sollten zudem stärker beteiligt werden.

Auch Linke und Grüne fordern eine Einbeziehung der Privatversicherten. Die Grünen bekräftigten ihre Forderung nach einer Pflege-Bürgerversicherung, bei der alle Bürger und alle Einkommensarten berücksichtigt würden. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz forderte, die Pflegeversicherung zusätzlich durch Steuermittel zu finanzieren. Der Spitzenverband der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen (GKV) sprach sich für einen steuerfinanzierten Bundeszuschuss für die Pflegeversicherung aus. Und der Deutsche Pflegerat plädierte für eine Zusammenlegung der Pflege- und Krankenversicherung.

Dass Spahn die Finanzierung der Pflege zur Debatte stellt, ist vermutlich der richtige Weg. Ohne ein Gegensteuern jedenfalls könnten die Beitragssätze zu den Sozialversicherungen in den nächsten 20 Jahren auf rund 50 Prozent steigen, warnt Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. "Für Wachstum und Beschäftigung wäre das ein Desaster." Kampeter forderte, die Beiträge nicht über 40 Prozent steigen zu lassen.

*Für ihre Prognose gingen die Wissenschaftler von weitgehend konstanten Pflegefallwahrscheinlichkeiten aus.

Info zum Eigenanteil:

Pflegebedürftige oder Angehörige müssen einen Eigenanteil leisten, weil die Pflegeversicherung – anders als die Krankenversicherung – nur einen Teil der Kosten trägt. Selbst bezahlt werden müssen neben einem Eigenanteil für die Pflege an sich zum Beispiel auch Unterkunft und Verpflegung im Pflegeheim. Im bundesweiten Schnitt kamen so zuletzt Summen von rund 1.800 Euro im Monat zusammen. Es gibt jedoch Unterschiede zwischen den Bundesländern.

Nach einer Umfrage im Auftrag des vzbv fürchten mehr als drei Viertel (77 Prozent) der Bundesbürger, im Falle einer Pflegebedürftigkeit nicht ausreichend abgesichert zu sein. Demnach wären 74 Prozent bereit, für eine bessere Absicherung höhere Versicherungsbeiträge zu zahlen. Zugleich nannten es 89 Prozent sinnvoll, für die Stärkung der Pflege auch Steuergeld zu verwenden. Befragt wurden im November vom Institut Forsa 1.005 deutschsprachige Menschen über 18 Jahre.

Verwendete Quellen

  • "Perspektive Pflege Finanzentwicklung der Sozialen Pflegeversicherung", Bertelsmann Stiftung
  • RWI impact notes
  • IW-Report 33/18
  • Bundesministerium für Gesundheit
  • Statista
  • dpa
  • AFP
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