• Keine Stadt verkörpert das Thema Armut so anschaulich wie Gelsenkirchen.
  • Fast jedes zweite Kind lebt hier in finanziell prekären Verhältnissen, die Armutsquote ist deutschlandweit am höchsten.
  • Was sind die Ursachen, welche Gesichter hat die Armut? Schuldnerberaterin Maren Ewald berichtet aus der Praxis und spricht eine Warnung aus.

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Es ist nicht einfach, jemanden in Gelsenkirchen zu finden, der über Armut sprechen möchte. Die meisten Wohlfahrtsverbände winken ab, eine betroffene Familie lässt sich nicht vermitteln. Auch bei der Tafel heißt es: "Wir wollen nicht immer daran mitwirken, dass Gelsenkirchen nur als die Armutsstadt gilt".

Dabei sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache: Nirgends in Deutschland ist die Armut so groß, wie in der Ruhrgebietsstadt: Eine Armutsquote von 26 Prozent katapultiert die Revierstadt deutschlandweit auf den letzten Platz.

Gesichter der Armut

Besonders groß ist die Not bei Kindern: Mit 40,5 Prozent lebt fast jedes zweite Kind in der nordrhein-westfälischen Großstadt in finanziell prekären Verhältnissen. Zum Vergleich: Im Kreis Borken, kaum 50 Kilometer entfernt, sind nur 8,5 Prozent der Kinder von Armut betroffen.

Maren Ewald kennt die Gesichter der Gelsenkirchener Armut: Die Familien, die seit Jahren nicht in den Urlaub fahren konnten oder ein Restaurant besucht haben, die Kinder, die sich sehnlichst einen Ausflug in den Freizeitpark wünschen, die Eintönigkeit von Milchsuppe, Nudeln und Brot. Sie weiß, wie groß der Schock ist, wenn das Konto plötzlich gesperrt wird, wie groß die Sorge, wenn die Inkassounternehmen mit Haftbefehlen drohen.

Schulden von 15.000 Euro

Die Sozialarbeiterin ist seit 12 Jahren in der Schuldner- und Insolvenzberatung der Gelsenkirchener Diakonie tätig. Wer zu der 57-Jährigen kommt, ist in den meisten Fällen arm. Knapp drei Wochen beträgt die Wartezeit für einen Termin – der Bedarf übersteigt die Kapazitäten bei weitem. "Im Schnitt liegen die Schulden bei 15.000 Euro, das sind vor allem Kredit- und Konsumschulden", sagt Ewald. Eine Liste von 10 Gläubigern ist typisch – vom Versandhandel bis zum Internetanbieter.

Das ist allerdings nicht das Erste, was die Sozialarbeiterin interessiert. "Zunächst geht es darum: Sind die existenziellen Grundbedürfnisse noch gedeckt? Was kommt monatlich an Geld rein, was geht raus?", erklärt Ewald. Miete, Strom, Lebensmittel, Schulsachen – alles kommt auf den Tisch.

Breites Spektrum an Klienten

Oft informiert die Sozialarbeiterin im nächsten Schritt über Unterstützungsangebote: "Viele schöpfen die staatlichen Hilfen wie Kinderzuschlag, Wohngeld oder Geld für Bildung und Teilhabe gar nicht aus, wissen nichts davon", weiß Ewald aus der Praxis. In der Beratung folgt die Schuldenregulierung, manchmal die Privat-Insolvenz. Hauptsache der Rucksack wird irgendwie leichter.

Wer kommt zu Ewald? "Bunt gemischt, das ganze Spektrum", sagt sie. Da ist der HartzIV-Empfänger, der endlich eine Festanstellung hat und sich denkt "Jetzt aber!" und sein Wohnzimmer neu einrichtet, außerdem ein neues Handy finanziert. Und dann klappt es plötzlich doch nicht mit dem Job, es kommt die Kündigung oder die pandemiebedingte Kurzarbeit.

Altenpflegerin bis Witwe

Da ist die Ehefrau, die plötzlich zur Witwe wird und die Kreditschulden für die Immobilie nicht mehr allein stemmen kann. Da ist die Altenpflegerin, die krank wird und bei deren Sozialhilfeberechnung das Einkommen der studierenden Tochter herangezogen wird. Da ist der Gelsenkirchener mit Migrationshintergrund, der als Angestellter beim Subunternehmen den Mindestlohn nur auf dem Papier bekommt und dann auch noch mit sprachlichen Hürden gutgläubig Verträge unterschreibt.

"Es wird den Menschen heutzutage auch sehr einfach gemacht, immer mehr zu finanzieren – vom Fernseher bis zum Sofa", kritisiert Ewald. Verschuldung bedeute nicht gleich, dass man nicht mit Geld umgehen könne. "Was oft passiert: Für Sozialhilfeempfänger übernimmt das Amt die Betriebskosten für die Wohnung. Wer arbeitet, zahlt sie neben der Miete selbst. Daran denken viele nicht: Wenn dann am Jahresende plötzlich eine Nachzahlung kommt, die selbst getragen werden muss, haben viele keine Rücklagen mehr", berichtet Ewald aus der Praxis.

Armut als Großstadtphänomen

Warum aber ist gerade Gelsenkirchen von Armut so gebeutelt? Dass Armut ein Großstadtphänomen ist, ist keine neue Erkenntnis. Auch, dass die Großstädte des Ruhrgebiets besonders mit den Folgen des noch immer andauernden Strukturwandels zu kämpfen haben, ist längst bekannt. Auch Herne, Dortmund und Duisburg gelten als Hotspots der Armut.

"Die Sozialstruktur von Gelsenkirchen spielt eine Rolle", ist sich Ewald sicher. Auch der jüngste Sozialbericht der NRW-Landesregierung unterstrich noch einmal: Wer als Kind bei gering qualifizierten Eltern aufwächst, bei nur einem Elternteil, in einer besonders kinderreichen Familie oder einen Migrationshintergrund hat, weist ein überdurchschnittliches Armutsrisiko auf.

Billiger Wohnraum, großer Niedriglohnsektor

All das sind Merkmale, die in Gelsenkirchen besonders oft vorkommen: Mit 15,4 Prozent ist die Arbeitslosenquote fast dreimal so hoch wie im Bundesdurchschnitt (5,6 Prozent), jeder fünfte Vollzeit-Beschäftigte in Gelsenkirchen arbeitet zum Niedriglohn, die Abiturquoten liegen unter dem deutschlandweiten Schnitt. Im Schnitt verdient jeder Erwachsene nur 16.274 Euro Netto jährlich.

Billiger Wohnraum zieht Großfamilien an, auch der Anteil an Bürgern mit Migrationshintergrund ist in Gelsenkirchen besonders groß: Sind es im Kreis Höxter beispielsweise nur 16,5 Prozent, weist Gelsenkirchen einen Anteil von 37,6 Prozent auf. "All das bedingt sich gegenseitig", ist sich Ewald sicher.

Armut seit Generationen

"Viele Kinder wachsen in Familien auf, in denen seit Generationen Armut herrscht, das ist für sie Normalität", weiß Ewald. Das Umdrehen jedes Euros ist Tagesordnung, die Hälfte der Familien, die Grundsicherung beziehen, haben kein Auto. Mobilität, Freizeit, soziale Teilhabe – ein schmales Konto wirkt sich direkt darauf aus.

"Oft versuchen Eltern die prekäre Lage vor ihren Kindern geheim zu halten, ich rate davon ab", sagt Ewald. Wüssten die Kinder um die finanzielle Situation der Familie Bescheid, könnten sie besser verstehen, warum die neusten Sneakers oder das teure Markenshirt nicht gekauft werden können.

Schulden machen krank

Auch in der Corona-Pandemie bekamen die armen Teile Gesellschaft die Auswirkungen besonders deutlich zu spüren: Aushilfskräfte litten schnell unter Kurzarbeit, Schüler aus armen Haushalten ohne Internetzugang oder Platz zum ungestörten Lernen wurden schneller abgehängt. Dass sich daran etwas ändern muss, ist für Ewald klar. "Schulden machen krank", betont sie.

Stress, Schlafstörungen, Kopfschmerzen und Depressionen sind häufige Folgen, auch der Zusammenhang zwischen Armut, Schulden und Fettleibigkeit ist wissenschaftlich belegt. Ewald hat deshalb Wünsche an die Politik: "Der Wert von Arbeit gegenüber Sozialleistungen muss steigen. Dass Schüler, die eine Ausbildung im Handwerk beginnen, mit 400 bis 500 Euro nur ein wenig mehr bekommen, als ihre Schulkollegen, die Hartz-IV beziehen, darf nicht sein", findet die 57-Jährige.

Geld als Thema in Schulen

Umgekehrt hält sie aber auch die Hartz-IV-Regelsätze knapp berechnet. "40 Euro im Monat für Strom, das ist schon grenzwertig", sagt Ewald. Sie fordert: "Der Umgang mit Geld muss in Schulen mehr und besser thematisiert werden."

Dazu gehöre beispielsweise Vertragsrecht. Auch die Quartiersarbeit vor Ort hält sie für eine wichtige Maßnahme. "Oft werden Projekte aber nur für eine begrenzte Zeit gefördert – gerade hat man Vertrauen aufgebaut, da laufen sie aus", ärgert sie sich.

Schere wird größer

Positiv sieht sie hingegen das neue Teilhabechancengesetz für Langzeitarbeitslose, welches 2019 in Kraft trat. Dabei werden sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen auf dem allgemeinen und sozialen Arbeitsmarkt bis zu 100 Prozent finanziell gefördert, wenn ein Arbeitgeber einen Langzeitarbeitslosen einstellt, der bereits seit sechs Jahren Leistungen bezieht.

Kriterien wie öffentliches Interesse oder Wettbewerbsneutralität entfallen dabei. Dennoch warnt Ewald: "Es muss mehr passieren, sonst wird die Schere zwischen Arm und Reich immer größer werden."

Verwendete Quellen:

  • Landschaftsverband Westfalen-Lippe: Migrationsanteil in Gelsenkirchen
  • Arbeitsagentur Gelsenkirchen: Arbeitslosenquote in Gelsenkirchen
  • Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW: Sozialbericht 2020.
  • Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Teilhabechancengesetz.
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