Wer sich mit dem Lesen und Schreiben schwertut, für den wird der Alltag zum Spießrutenlauf. Wie meistern Analphabeten ihr Leben und wo erhalten sie Hilfe? Darüber haben wir mit einem Betroffenen und dem Geschäftsführer des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung e.V. gesprochen.

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In Deutschland gelten etwa 7,5 Millionen Menschen zwischen 16 und 65 Jahren als sogenannte funktionale Analphabeten. Jeder siebte Erwachsene ist betroffen. Gering literalisierte Menschen können zwar einzelne Buchstaben, Wörter und Sätze lesen, tun sich aber schwer mit längeren Passagen.

Viele kommen laut Ralf Häder, Geschäftsführer des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung e.V., eher aus dem sogenannten sozialschwachen Milieu. "Wenn in der eigenen Familie wenig gelesen und geschrieben wird, dann wird das tradiert."

Martin Sell ist einer von ihnen. Er ist 45 Jahre alt und arbeitet seit mehreren Jahren für einen Großhändler für Schreiner- und Malerbedarf im Bereich Lager und Versand. "Davor war ich aufgrund meiner 'schulischen Fehlbildung' sechs bis sieben Jahre lang arbeitslos", so Sell.

Der Umgang mit dem eigenen Analphabetismus

Mit seinem Analphabetismus gehe er offen um. Seine Arbeitskollegen wüssten, dass er Probleme mit dem Lesen und Schreiben hat. "Ich bin ja ein funktionaler Analphabet und kann ein Stück weit lesen. Auch dank der Kurse, die ich besucht habe", so Martin Sell. "Wenn ich allerdings viel zu tun habe und es sehr stressig zugeht, dann klappt das nicht so gut. Ich brauche eben einfach viel mehr Zeit."

So sei es beispielsweise auch beim Umgang mit Social Media. Facebook habe für ihn eine hohe Bedeutung, so Martin Sell. Beim Lesen der Nachrichten lasse er sich Zeit und schreibe selbst eben kurze Sätze. Auch die Rechtschreibprüfung auf seinem Handy ziehe er dafür zu Rate.

Laut der LEO 2018, einer Studie der Universität Hamburg, haben 62 Prozent der Betroffenen einen Job. "Manche gehen ganz selbstbewusst und zufrieden durchs Leben. Vielen ist ihr Analphabetismus aber sehr peinlich. Sie schämen sich und haben Strategien entwickelt, damit er unentdeckt bleibt", so Häder im Gespräch mit unserer Redaktion.

Es sei immer wieder überraschend, so Häder, welch fast schon fotografisches Gedächtnis viele Betroffene hätten. Sie könnten beispielsweise Veränderungen in Räumen sehr exakt beschreiben und verfügten über einen genauen Blick für Menschen und Umgebungen.

Allerdings hätten viele Betroffene einen eher kleinen Bewegungsradius und hielten sich gerne in der vertrauten Umgebung auf.

In der Arbeit suchten sich manche Mitwisser, die ihnen Aufgaben abnehmen, wenn sie im Gegenzug eine Aufgabe von ihnen übernehmen, so der Experte.

Schwierige Schulzeit

Dass Kinder durch die Schulzeit gehen, ohne Lesen und Schreiben gelernt zu haben, komme immer noch vor, so Ralf Häder. "Es fiel damals auf und es fällt heute auf. Aber es wird zu wenig getan. Wenn 25 Kinder in einer Klasse sind und die meisten davon haben Eltern, die sie fördern und sich, manchmal schon übertrieben, für ihre Bildung einsetzen, dann fallen die zwei Kinder, die Schwierigkeiten haben und immer ruhiger werden, nicht so auf."

Für viele Grundschulen und Lehrer sei es ein Erfolg, wenn zahlreiche Kinder aufs Gymnasium gingen. "Auf die zwei Kinder, die zur Förderschule wechseln, wird nicht sonderlich geachtet", so der Experte.

Für Martin Sell bestand seine Schulzeit "aus Enttäuschungen und Niederlagen". Seine Adoptiveltern, besonders seine Adoptivmutter, hätten sich aber sehr engagiert. Als er nach der Grundschule eine Empfehlung für die Sonderschule erhielt, wollte sie das nicht hinnehmen.

Martin Sell besuchte stattdessen eine Waldorfschule, fühlte sich dort allerdings fehl am Platz. "Als ich schließlich doch auf die Sonderschule gegangen bin, habe ich in den eineinhalb bis zwei Jahren dort mehr gelernt als je zuvor. Ich hatte die Möglichkeit, noch um ein Jahr zu verlängern, aber ich wollte wegen all der schlechten Erfahrungen nicht mehr. Im Rückblick war das vielleicht keine gute Entscheidung."

Das Alfa-Telefon als erster Schritt

Laut Ralf Häder sind die Personen, die Kurse besuchen, um ihre Lese- und Schreibkenntnisse zu verbessern, meist schon etwas älter. Nur ein geringer Teil der jungen Generation bis 35 Jahre nehme an den Kursen teil. Denn die Jüngeren hätten die leidvollen Erfahrungen der Schulzeit noch frisch in Erinnerung.

Für viele sei das Alfa-Telefon, die anonyme Beratungshotline des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung e.V., die erste Anlaufstelle.

"Personen, die nicht lesen und schreiben können, denken oft, sie seien die einzigen, denen es so geht. Hier erfahren sie dann, dass viele betroffen sind. Die erste Hürde ist dann genommen und der Leidensdruck lässt nach", so Häder.

Hier riefen Menschen aller Altersklassen an, auch Angehörige oder Menschen aus dem Umfeld von Betroffenen. Neben Kursen würden auch Selbsthilfegruppen, Mentoren oder Paten vermittelt, so Häder.

Bei Martin Sell ist es nach eigenen Angaben etwa 25 Jahre her, seit er beim Alfa-Telefon angerufen und dann begonnen habe, VHS-Kurse zu besuchen. Ausschlaggebend sei damals gewesen, dass ihn erneut eine Leihfirma vor die Türe gesetzt habe.

"Manchmal wollte ich die Jobs auch selbst nicht mehr machen", so Martin Sell. "Als Analphabet bekommt man immer die Hilfstätigkeiten, die sonst keiner machen will. Die Leute denken, weil man nicht richtig lesen und schreiben kann, kann man auch nicht richtig denken. Da gibt es viele Vorurteile."

"Am Anfang war es hart, dranzubleiben, es war sehr mühsam", so Sell über seine Kursbesuche. "Außerdem hat es mich an die Schulzeit erinnert, die vom ersten bis zum letzten Schuljahr für mich eine Katastrophe war."

Umgang mit Analphabetismus ohne Tabus

Heute ist Martin Sell "im Großen und Ganzen" zufrieden mit seinem Leben und stolz auf das, was er erreicht hat. Von anderen Betroffenen würde er sich wünschen, dass sie offener mit ihrem Analphabetismus umgehen. "Es darf kein Tabu bleiben", sagt er. Die Gesellschaft sollte Betroffenen seiner Meinung nach aber auch mit mehr Toleranz und weniger Vorurteilen begegnen.

Auch Ralf Häder fordert ein Umdenken: "Im Schulsystem brauchen wir neue Konzepte und mehr Förderung. Es darf kein Kind zurückgelassen werden. Für dieses Problem ist das Schulsystem noch nicht hinlänglich gewappnet."

Es gebe aber schon gute Ansätze. "Bei 'Family Literacy' geht es beispielsweise darum, dass Eltern und Kinder gemeinsam mit Lehrern das Lesen üben, so dass die Eltern ihrem Kind vorlesen können."

"Generell bräuchte es viel mehr kostenlose Kursplätze", so der Experte. Gerade auf dem Land sei die Lage für Betroffene schlecht. "Wenn sich dort zwei Teilnehmer für einen Kurs anmelden, der erst ab sechs Teilnehmern stattfindet, dann müssen sie noch ein halbes Jahr warten." Das dürfe nicht sein.

Auch die Unternehmen seien gefragt. "Wirtschaft und Arbeitgeber müssen dafür sorgen, dass sich der Mitarbeiter Grundkompetenzen aneignen kann. Dies kann beispielsweise ein Computerkurs sein, zu dem auch die Verbesserung der Lese- und Schreibkompetenz gehört", so Ralf Häder.

Über den Experten: Ralf Häder ist Geschäftsführer des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung e.V.

Hinweis: Dieser Beitrag ist ein aktualisierter Artikel aus unserem Archiv.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Martin Sell
  • Bundesministerium für Bildung und Forschung: "Leben mit geringer Literalität"
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