Was haben rechtsextremistische Taten, islamistischer Terror und Amokläufe gemein? Viel, meint Nils Böckler, Experte für Radikalisierungsprozesse. Im Interview erklärt er die psychologischen Hintergründe.
In Ihrem Buch "Von Hass erfüllt" analysieren Sie rechtsmotivierte Taten, islamistische Terror und Amokläufe. Was haben die alle gemein?
Nils Böckler: Das verbindende Element ist Hass. Die Attentäter, die wir für unser Buch analysiert haben, sind zwar ideologisch alle sehr unterschiedlich motiviert, allerdings hatten ihre Opfer für den Täter einen rein symbolischen Wert – sie hatten keinen persönlichen Konflikt mit ihnen.
Die Menschen sind dem Täter nur zum Opfer gefallen, weil sie von ihm als Stellvertreter einer Gruppe angesehen wurden, die der Täter hasste.
Wie entsteht solcher Hass?
Wir müssen den Hass von heißen Emotionen wie Wut unterscheiden. Wut verfliegt schnell und ergibt sich meist aus einer situativen Bedrohungslage. Hass hingegen richtet sich gegen das Dasein von Menschen. Hass verfliegt nicht, sondern beeinflusst nachhaltig, wie wir die Welt sehen.
Bei Terroristen und Amokläufern ist meist ein kalter und langsam entwickelter Hass zu beobachten. Am Anfang steht dabei immer ein subjektiv erlebter Missstand. Dieser führt dazu, dass sich dieser Mensch beispielsweise langsam zurückzieht und zu grübeln anfängt.
In dieser Situation stößt er auf extremistische Gruppen oder Amokläufer-Communitys im Internet. Diese Gruppen bieten einfache Erklärungen für komplexe Fragen an – für die Dinge, die diese Menschen nicht in Worte fassen konnten wie etwa das Gefühl, nicht dazuzugehören oder dass das Leben sinnlos ist und man sich als Taugenichts fühlt.
Extremistische Ideologien helfen, die Schuld für die Probleme bei anderen zu verorten. So behaupten die Rechten etwa, alle Ressourcen werden auf die Flüchtlinge abgestellt. Niemand denke mehr an die Deutschen im Land. Die Islamisten wiederum schieben dem dekadenten Westen mit seinen oberflächlichen Werten die Schuld in die Schuhe und markieren ihn als das Böse, das den Islam ausrotten will.
Wie geht es dann weiter?
Diese Gruppen haben nicht nur eine Erklärung, sie bieten immer auch vermeintliche Lösungen und Strategien an und bauen Handlungsdruck auf. Wer sich der entsprechenden Gruppe zuordnet, müsse etwas unternehmen. Aus dem Gefühl der Bedrohung wird nach und nach eine Einstellung, die absolut wird. Nach und nach wird so Hass erlernt.
Wer ist besonders empfänglich für Hass?
Es gibt verschiedene Tätertypen, die nach ihren jeweiligen Bedürfnissen von Extremisten mit Angeboten gelockt werden.
Es ist ein Mythos, dass nur Menschen zu Attentätern werden, die von der Gesellschaft abgehängt wurden. Gerade unter den nach Syrien ausgereisten Deutschen sind auch viele mit Abitur und Studium. Nichtsdestotrotz erleben sie ganz subjektive Unzufriedenheiten, die bei einigen zu Sinnkrisen auswachsen.
Manche treibt auch der Wunsch nach Karriere in extremistische Gruppen. Wie der Fall eines jungen Studenten, der Chemie studierte und sich einer dschihadistischen Gruppe anschloss, um in die Führungsränge einer terroristischen Organisation aufzusteigen.
Andere versuchen, aus einer persönlichen Krise zu finden, wollen berühmt sein oder suchen Zugehörigkeit. Sie alle finden sich in verschiedenen radikalen Milieus zusammen und grübeln mit Gleichgesinnten lange darüber nach, wer der Feind ist und was man gegen ihn machen sollte.
Wie wird aus Hass brutale Aggression? Ab wann kippt es?
Das richtet sich nach den Tätertypen. Diejenigen, die nach Zugehörigkeit suchen, folgen oftmals einem Rädelsführer. Der ebnet ihnen den Weg zur Gewalt. Für den Anführer, nicht für sich selbst, wird die Gewalttat legitimiert. Dahinter steckt also meist sozialer Gruppendruck.
Einzeltäter wiederum kommen irgendwann an einen Punkt, wo sie sich immer stärker in die Gewalttat hineinfantasieren. Gleichzeitig gerät ihr Leben immer mehr aus den Fugen. Ihr Selbstbild ist irgendwann nicht mehr in Einklang mit dem täglich Erlebten zu bringen. Beim Fantasieren merken sie, sie können sich selbst nicht mehr ernst nehmen, sollten sie ihre Idee nicht irgendwann in die Tat umsetzen.
Diese Täter fantasieren oft über Monate und auch Jahre. Ob es zur Tat kommt, hängt sehr stark von den äußeren Umständen ab wie persönliche Niederlagen, dem Verlust eines Jobs oder wichtiger Bezugspersonen. Wenn sich die Umstände zuspitzen, wird der Handlungskorridor verengt und die Tat als alternativlos angesehen.
Wonach richtet sich, wer zum Opfer wird?
Im Zuge seiner Radikalisierung fixiert sich der Täter auf einen bestimmten Opferpool. Im rechtsextremen Spektrum ist der Islam momentan das Feindbild Nummer eins. Somit werden alle Muslime oder Menschen mit Fluchthintergrund angegriffen. Ähnlich machen es die Islamisten, wenn sie bei einem Anschlag westliche Bürger im Herzen einer Stadt attackieren.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass der Inhalt der Ideologie oft zweitrangig wird. Inwiefern? Sind Ideologien austauschbar?
Die Ideologie ist oft nur ein Instrument, um sich selbst darzustellen und sich die Welt zu erklären. Wir sehen, dass bei rechtsextremen und islamistischen Taten und auch bei Amokläufern die psychologischen Dynamiken sehr, sehr ähnlich sind: Die Gruppen geben die Ideologie vor. Sie ist schlicht und auf starre Feindschaftsverhältnisse ausgelegt: Freund, Feind; schwarz, weiß. Diese Logik dient im Zuge der Radikalisierung als Kompass für das eigene Leben.
Das funktioniert immer gleich: Erstens geben Ideologien immer vor, dass etwas in einer Gesellschaft schiefläuft. Zweitens besagen sie, dass das hochgradig ungerecht ist. Drittens: Die eigene Gruppe wird als das Opfer dieser Ungerechtigkeit stilisiert. Viertens: Es wird ein Feind für dieses Unrecht verantwortlich gemacht, gegen den etwas unternommen werden soll.
Diese Mechanismen – egal ob bei den rechtsextremistischen, linksextremistischen und islamistischen Gruppen – sind ähnlich, denn ihre Botschaften haben die gleiche Anatomie. Wir haben bereits öfter beobachtet, dass Extremisten aus verschiedenen Spektren sogar voneinander lernen.
Dadurch können auch narzisstische Tendenzen befriedigt werden. Dem Selbst wird ein Sinn und Überlegenheit zugeschrieben. Somit dienen Hass und durch Hass motivierte Gewalttaten letztendlich der Steigerung des Selbstwertes.
Allerdings ist es meist nur eine vermeintliche Stärkung des Selbstbildes. Denn der Aufbau des Selbstbewusstseins funktioniert nur so lange, wie jemand der Ideologie folgt.
Im Buch gehen Sie auf die Möglichkeiten der Radikalisierung im Internet ein. Wie gefährlich ist das?
Das Internet ist erst mal nur ein weiterer Kommunikationskanal. Allerdings brauen sich Bewegungen hier leichter zusammen. Denn im Internet finden sich Menschen zusammen, die vielleicht so nie zusammengefunden hätten und eher einsam geblieben wären. Im Internet sind sie quasi gemeinsam einsam.
Extremistische Gruppen haben es darüber hinaus perfektioniert, online Inhalte bereitzustellen und soziale Beziehungen aufzubauen. Beim "Islamischen Staat" (IS) sind es unter anderem die sogenannten Head Hunter, die über das Netz Jugendliche rekrutieren und versuchen zum Handeln zu motivieren. Dem IS ist es so gelungen, seine Ideologie im Hollywood-Style und als Jugendkultur zu verkaufen.
Das Internet wird aber auch von anderen Extremisten als Schaufenster für ihre Ideologien genutzt.
Außerdem lässt sich im Netz sehr leicht Kontakt mit extremistischen Szenen aufnehmen. Man muss nur ein bestimmtes Video liken und schon wird man von entsprechenden Personen angeschrieben.
Wir haben das im islamistischen und im rechtextremistischen Bereich getestet. Das Ergebnis waren hunderte neue Freundschaftsanfragen. Je mehr dieser Anfragen angenommen wurden und je mehr Inhalte mit "gefällt mir" bewertet wurden, desto mehr extremistische Inhalte wurden über Social-Media-Kanäle angeboten und desto mehr Freundschaftsanfragen gab es. Die Forschung nennt das Inhaltsblasen.
Sie sagen in Ihrem Buch auch, dass Terror und Amok im breiten sozialen Kontext gesehen werden müssen. Hass gegen die Gesellschaft ist für einige Menschen auch ein Grund, sich Sekten zuzuwenden. Verhält es sich diesbezüglich ähnlich?
Ja, das lässt sich sehr gut miteinander vergleichen: Zum einen gibt es immer eine Gruppe, die ein alternatives Weltbild anbietet. Es steckt immer eine abstrakte Idee dahinter, eine Ideologie.
Zum anderen werden Mitglieder rekrutiert. Bei den Salafisten etwa kommt der Prediger Pierre Vogel vielen aufgrund seiner kumpelhaften Art sympathisch rüber. Er versucht auf Jugendliche zuzugehen, eine Beziehung aufzubauen und sie auf der Beziehungsebene abhängig zu machen. Wenn das geschafft ist, wenn Bedürfnisse etwa nach Zugehörigkeit gestillt sind, dann wird langsam die menschenfeindliche Ideologie untergebracht.
Sekten agieren ähnlich. Bei ihnen heißt das Love-Bombing. Durch Demonstrationen von Aufmerksamkeit und Zuneigung wird Abhängigkeit geschaffen, danach wird die die Beziehung mit dem neuen Weltbild unterfüttert.
Inwiefern tragen Medien zur Radikalisierung bei?
Lange Zeit haben es Attentäter sofort auf Seite eins von Zeitungen geschafft. Die Medien haben teils sehr detailliert über Taten und Täter berichtet. Das ist auch potenziellen Nachahmungstäter nicht entgangen, die sich ebenfalls mit ihren Taten ins kollektive Gedächtnis einbrennen wollten.
Zudem bilden sich bei Schulamokläufern, bei islamistischen Attentaten, bei den Incels (Anm. d. Red.: Gemeinschaft unfreiwillig Sexabstinenter) sogenannte Fan-Communitys, die sich mit dem Täter und seinem Motiv beschäftigen. Durch die Medien nehmen die Täter oftmals anschließend sogar aufeinander Bezug.
Was empfehlen Sie also?
Natürlich muss man über die Taten berichten – allerdings so, dass es möglichst wenig Identifikationsgrundlage gibt. Generell sollte über die Täter sehr, sehr nüchtern berichtet werden. Bilder sollten verpixelt und Namen nicht genannt werden. Das entindividualisiert die Tat und der Täter hat keine Möglichkeit, gesellschaftlich Gehör zu finden.
Das eint Terror und Amok wieder: Beides funktioniert nicht alleine für sich. Dass ein Mensch einen anderen umbringt, vollendet den Terror nicht.
Terror und Amokläufe sind immer darauf angewiesen, dass die Gesellschaft in irgendeiner Weise reagiert. Das zeigt vor allem der Fall Anders Breivik. Er wollte nicht als Geisteskranker gelten, sondern als politischer Gefangener. Die gesellschaftliche Verhandlung der Tat war für ihn unheimlich wichtig.
Was kann man gegen Hass tun?
Man muss aufklären. Vor allem sollten Begriffe richtig verwendet beziehungsweise gegeneinander abgegrenzt werden. In der öffentlichen Diskussion verschwimmen zum Beispiel oft die Grenzen zwischen den Begriffen Islam und Islamismus. Das kann zu Stigmatisierungseffekten von Muslimen führen, wenn sie sich immer wieder zum Thema Terror äußern müssen.
Das wiederum spielt den Extremisten in die Hände, die die tagtäglich erlebte Diskriminierung für sich nutzen und sich als Alternative präsentieren. Auf der rechtsextremistischen Seite funktioniert dies ähnlich, wenn etwa besorgte Bürger und Bürgerinnen woanders kein Gehör finden.
Außerdem müssen wir gesellschaftliche Institutionen sensibilisieren und Früherkennung betreiben. Bei Einzeltätern spricht man immer von einer stillen Radikalisierung. Das stimmt so allerdings nicht. Sie haben grundlegende Bedürfnisse der Selbstinszenierung.
Deshalb präsentieren sie sich in Chats und Foren, aber auch gegenüber Mitschülern, Kollegen oder Freunden häufig sehr offensiv als Anhänger einer Ideologie und versuchen eventuell andere anzuwerben. Das passiert meist lange bevor es zum Anschlag kommt.
Das heißt, wir brauchen in den Institutionen Ansprechpartner, die vernetzt sind mit Beratungsstellen, Ordnungsamt, Sicherheitsbehörden und sozialen Diensten, um sowohl in frühen als auch späteren Phasen adäquat auf Radikalisierung reagieren zu können.
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