Für den Podcast "Geteiltes Leid" hat die Psychologin und Journalistin Olga Herschel zu Psychotherapien recherchiert. Was es mit der Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung auf sich hat und warum sie so umstritten ist, erklärt sie im Interview.

Ein Interview

Frau Herschel, in dem Podcast "Geteiltes Leid" widmen Sie sich einem verstörenden Fall: der Geschichte einer jungen Frau, die die Diagnose dissoziative Identitätsstörung erhält. Was macht diesen Fall so besonders?

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Olga Herschel: In dem Podcast geht es um die Diagnose dissoziative Identitätsstörung, die sehr eng verwoben mit einer Verschwörungserzählung ist. Dabei geht es um die Erzählung der rituellen Gewalt. Der Podcast beleuchtet zahlreiche Fragen rund um diese Diagnose, die es historisch betrachtet noch gar nicht lange gibt. So kam es, dass wir im Rahmen der Recherchen im deutschsprachigen Raum auf mehrere fragwürdige Psychotherapeutinnen und -therapeuten, aber auch Kliniken und Opferschutzvereine gestoßen sind.

"Die Diagnose dissoziative Identitätsstörung geht häufig mit schädlichen Therapien einher."

Olga Herschel über eins der Ergebnisse ihrer Recherchen

Inhaltlich erzählen wir die Geschichte einer jungen Frau namens Leonie und ihrer Familie. Wir sprechen aber auch mit einer Person, die für einen gewissen Zeitraum mit dieser Diagnose gelebt und an schädlichen Therapien teilgenommen hat. Denn, das ist eines der Ergebnisse unserer investigativen Recherche: Die Diagnose dissoziative Identitätsstörung geht häufig mit schädlichen Therapien einher.

Geht das, was mit der jungen Frau in dem Podcast passiert, über einen Einzelfall hinaus?

Ja. Wir erzählen Leonies Geschichte sehr ausführlich, sprechen im weiteren Verlauf aber auch mit weiteren Menschen, Angehörigen und Betroffenen. Im Rahmen dieser Gespräche und investigativer Recherche von Fachliteratur, Arztbriefen, Behandlungsabrechnungen fielen uns fragwürdige Therapieformen auf und eine Art Muster, nach dem Behandelnde in bestimmten Therapiekreisen vorgehen. Zum Beispiel sind wir in unseren Recherchen auffallend oft auf suggestive Fragen in der Therapie gestoßen. Was genau da passiert, erzählen wir ausführlich in Folge 4, daher will ich noch nicht zu viel verraten.

Was genau ist denn eigentlich eine dissoziative Identitätsstörung?

Bei einer dissoziativen Identitätsstörung finden verschiedene Bewusstseinszustände in einem Körper statt. Die Maximalform ist so definiert, dass die Anteile komplett aufgespalten sind und nichts voneinander wissen. Der eine Bewusstseinszustand weiß also nichts von der Existenz und dem Handeln der anderen. Nach den neuen Diagnosekriterien gibt es eine mildere Variante, bei der die Anteile nicht ganz so zersplittert sind.

Wird die Diagnose dissoziative Identitätsstörung häufig gestellt?

In bestimmten Traumatherapiekreisen gibt es Anhängerinnen und Anhänger, die von einer Häufigkeit vergleichbar mit Schizophrenie ausgehen und diese Diagnose entsprechend häufig vergeben. Hier wird mittels einer nicht belegbaren Arbeitshypothese gearbeitet, nach der die Aufsplittung bewusst durch Täter erzeugt wird, indem sie schwerste Gewalt, auch sexualisierte Gewalt ausüben. Dies ist Teil der erwähnten Verschwörungserzählung rund um rituelle Gewalt. Es ist eine sehr umstrittene Diagnose, die für den Großteil der Fachöffentlichkeit irrelevant ist – in dem Sinne, dass sie sie nie vergeben: Nur in bestimmten traumatherapeutischen Kreisen finden sich Verfechter und Verfechterinnen der Diagnose.

Sie sagen, wir sprechen hier von einer umstrittenen Diagnose. Inwiefern wirkt sich dieser Aspekt auf Betroffene aus?

Betroffene und Therapierende, die sich für diese Diagnose starkmachen, werfen Journalisten oft vor, zu viel oder zu kritisch über diese Störung zu berichten. Es ist aber tatsächlich eine Störung, die wenig Evidenz hat und die häufig mehr Leid für Betroffene bedeutet als andere Diagnosen. Es ist also richtig, über sie kritisch zu berichten. Häufig hören wir zum Beispiel den Vorwurf, dass es aufgrund der kritischen Berichterstattung für Betroffene schwer sei, einen Therapieplatz zu finden. Da wird aus meiner Sicht aber ein Zusammenhang zwischen zwei Tatsachen hergestellt, den es nicht gibt. Denn es ist leider generell so, dass viele Menschen in Deutschland keinen Therapieplatz finden. Für Menschen mit komplexen psychiatrischen Diagnosen sind die Schwierigkeiten noch größer, eine adäquate Versorgung zu finden. Das ist vielfach belegt, sowohl in der Fachwelt als auch durch die Presse.

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Ein Aspekt ist dabei, dass niedergelassene Therapeuten und Therapeutinnen häufig vor herausfordernden Diagnosen zurückschrecken, weil sie befürchten, diesen Fall nicht ambulant therapieren zu können. Weil die Wartelisten für Therapieplätze entsprechend lang sind, können sich Therapierende ihre Patienten und Patientinnen aussuchen – in der Folge suchen sie sich häufig jene Fälle aus, die ihnen managebar erscheinen. Die Gründe für dieses strukturelle Problem liegen eindeutig in der Politik, bei den kassenärztlichen Vereinigungen und bei den Krankenkassen – und haben ihren Ursprung eben nicht in der kritischen Berichterstattung über die DIS.

Vor allem in Filmen oder Serien wird häufig mit dem Bild einer dissoziativen Identitätsstörung gespielt. Inwiefern kommt diese Darstellung von multiplen Persönlichkeiten der Realität nahe?

Die Diagnose hat vor allem in dem Genre der Psychothriller große Popularität gefunden. Dort wird oft mit dem Plot-Twist gespielt, dass der Mörder oder die Mörderin genau die Figur ist, die man als Protagonist oder Protagonistin verfolgt hat – nur weiß diese Person eben selber nichts davon, einen bösartigen Anteil in sich zu tragen. In den 90er-Jahren hat der Film "Fight Club" dafür gesorgt, dass viele Menschen der Normalbevölkerung es als gegeben angesehen haben, dass sich eine dissoziative Identitätsstörung genauso abspielt, wie in dem Film dargestellt. Viele Menschen denken demnach, dass eine Person aufgrund ihrer Persönlichkeitszersplitterung sogar einen Mord begehen könnte, ohne davon Kenntnis genommen zu haben. Doch Filme wie "Fight Club" sind Fiktion.

Und dennoch wird es häufig für bare Münze genommen …

So ist es. Was ich persönlich am schwierigsten finde an dieser Darstellung multipler Persönlichkeiten im Film, ist, wie selbstverständlich psychisch erkrankte Menschen als schwere Verbrecher stilisiert werden. Das ist leider eine Jahrhunderte alte Tradition in der Wahrnehmung psychisch Erkrankter. Diese Filme schlagen immer wieder in diese Kerbe: Psychisch Erkrankte werden mit gewalttätigen Menschen gleichgesetzt. Dass dieses Narrativ häufig übernommen wird, empfinde ich als sehr schmerzhaft. Einerseits spielt die Filmindustrie mit diesem Narrativ, während andererseits viele Menschen vor den Bildschirmen sitzen, die keine umfassenden Möglichkeiten haben, die Darstellungen auf Richtigkeit zu checken.

Waren Sie im Rahmen Ihrer Arbeit schon mit Betroffenen in Kontakt, die mit solchen Narrativen konfrontiert wurden?

In meiner über fünfjährigen Arbeit als Kinder- und Jugendpsychiaterin ist mir noch nie ein Fall einer dissoziativen Identitätsstörung begegnet. Insofern sind mir auch noch nie Projektionen dieser Art begegnet. Im Allgemeindiskurs ist inzwischen aber glücklicherweise eine gewisse Normalisierung entstanden, wenn es darum geht, über psychische Erkrankungen zu sprechen. Dennoch ist mein Eindruck, dass uns das bislang nur mit Blick auf bestimmte Diagnosen gelungen ist. Damit meine ich etwa die Depression, ADHS oder mentale Erschöpfungen. Diagnosen wie Psychosen, Schizophrenie oder bipolare Störungen hingegen sind nach wie vor sehr schambesetzt. Diesbezüglich steht uns also noch ein langer Weg bevor.

Sorgt das in der Folge dafür, dass dissoziative Identitätsstörungen keine wirkliche Lobby haben?

Olga Herschel. © Undone_Shane/Thomas McMillan

Es ist fast andersherum. Die dissoziative Identitätsstörung ist eine von vielen Teilen der Fachöffentlichkeit kritisch diskutierte Diagnose. Es gibt aber einen gewissen Traumatherapeutenkreis, in dem die Therapierenden sich selbst als Lobbyisten für diese Diagnose betrachten. Ganz sicher treffen diese Menschen auf traumatisierte Personen. Ob diese Personen aber tatsächlich das erlebt haben, was im Rahmen einer Therapie als Narrativ erarbeitet wird, ist schwierig zu beurteilen. Insofern gibt es zwar eine Lobby für diese Diagnose. Die Frage ist aber, ob diese Lobby recht hat. Es gibt sehr viele Hinweise, dass bestimmte Therapierende, also diese Lobby, mit ihren Annahmen zur sogenannten rituellen Gewalt und Persönlichkeitsspaltungen im Bereich einer Verschwörungserzählung bewegen.

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