Wird Eva Lindner gefragt, wie viele Kinder sie hat, antwortet sie: zwei. Ihre Töchter sind eineinhalb und sechs Jahre alt. Doch Lindner fühlt sich als Mutter dreier Kinder. Zwischen den Geburten der Mädchen brachte sie ein Kind im vierten Monat zu Hause im Badezimmer tot zur Welt. Danach: Tiefe Trauer, das Gefühl, damit allein zu sein, unermesslicher Druck, wieder schwanger zu werden – und irgendwann die Motivation, ein Buch über dieses Tabuthema zu schreiben.

Ein Interview

Warum fällt es uns so schwer, über gescheiterte Schwangerschaften zu sprechen? Was muss sich politisch ändern, damit Frauen in dieser belastenden Situation besser unterstützt werden? Und wie kann ich einer betroffenen Freundin helfen? Fragen an die Autorin.

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Frau Lindner, Ihre Fehlgeburt ist drei Jahre her. Wie präsent ist das Kind, das Sie nicht in den Armen halten können, in Ihrem Alltag mit zwei Töchtern?

Eva Lindner: Wir halten die Erinnerung bewusst am Leben, auch, indem wir den Geburts- und Todestag begehen, eine Kerze anzünden, uns an den Händen halten. Ich werde auch nie mehr in den Sternenhimmel schauen, ohne an unser Sternenkind zu denken. Wir sprechen nicht ständig von ihm, aber immer mal wieder. Neulich meinte meine Tochter, dass ein Sternenkind für Mama und Papa ja insofern gut sei, als man ihm nicht die Windeln wechseln muss.

Klingt, als hätten Sie einen Weg gefunden, mit dem Verlust umzugehen. Hat das Schreiben dabei geholfen?

Auf jeden Fall. Freundinnen und Familienmitglieder kamen jetzt nach der Lektüre auf mich zu und sagten: "Ich wusste gar nicht, wie schlimm das für dich war." Da ist mir bewusst geworden, dass ich mein Erlebnis, in der Intensität, wie ich es im Buch beschreibe, damals gar nicht erzählt habe. Damals konnte ich das nicht. Die richtigen Worte habe ich erst beim Schreiben gefunden.

Schwangerschaft ohne Kind - kein Einzelfall

  • Etwa jede dritte Frau erleidet in ihrem Leben einen Schwangerschaftsverlust.
  • Am häufigsten sind Fehlgeburten im ersten Drittel der Schwangerschaft. Bei Frauen unter 30 Jahren kann sich rund die Hälfte der befruchteten Eizellen nicht weiterentwickeln. Bei älteren Frauen ist das Risiko noch höher.
  • Ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Schwangerschaft festgestellt werden kann (5. Woche), kommt es in zehn bis 20 Prozent der Fälle zu einer Fehlgeburt.
  • Im letzten Drittel der Schwangerschaft liegt das Risiko, das Kind zu verlieren, nur noch bei zwei bis drei Promille. Auf 1.000 Geburten kommen also zwei bis drei Totgeburten. (Quelle: Bayerisches Familienministerium)

Was hat Sie im Zuge der Arbeit am meisten bewegt?

Neben den persönlichen Geschichten der Frauen die Erkenntnis, wie sehr die Gesellschaft mitverantwortlich ist für die großen Schuldgefühle der Betroffenen. Umfragen zeigen, dass zwei Drittel der Menschen glauben, eine Fehlgeburt bedeute, dass die Schwangere etwas falsch gemacht hat, zum Beispiel zu schwer gehoben oder sich zu großem Stress ausgesetzt. Dass für 60 bis 85 Prozent der Schwangerschaftsverluste Chromosomenanomalien verantwortlich sind, für die niemand etwas kann, wissen dagegen die wenigsten. So wird den Frauen suggeriert, sie hätten ihre Schwangerschaft unter Kontrolle – und wenn was schiefläuft, sei es ihr Versagen.

Die Frau soll bitte liefern ...

... und wenn nicht, ist sie selbst schuld und soll das am besten für sich behalten. Das spiegelt sich ja auch in der ungeschriebenen Regel, dass man von einer Schwangerschaft erst nach drei Monaten erzählt, wenn die riskanteste Zeit vorbei ist. Wir Frauen sollen gute Nachrichten überbringen, aber nicht über all das Komplizierte, Schmerzhafte sprechen.

Eva Lindner, Autorin von "Mutter ohne Kind". © Anna McKay

Raten Sie, sich nicht an die sogenannte Zwölf-Wochen-Regel zu halten?

Das muss jede Frau selbst entscheiden. Wichtig ist mir, dass man diese gesellschaftliche Norm überdenkt. Ich habe von allen drei Schwangerschaften erst nach der zwölften Woche erzählt. Heute würde ich es anders machen.

Wie kommt man zur für sich richtigen Entscheidung?

Man sollte sich mit dem werdenden Vater austauschen. Wäre es für uns im Fall des Verlustes besser, wenn das Umfeld davon wüsste? Würden wir Unterstützung erfahren? Oder wollen wir nur ein, zwei nahestehende Menschen einweihen, die im Zweifel für uns da sind?

Fehlgeburt ist für Frauen eine "komplette persönliche Katastrophe"

Sie schreiben, nach einer Fehlgeburt sei eine Frau der Gesellschaft weniger wert als als Schwangere. Eine harte These.

Es ist leider Fakt, dass die Frauen nicht gut versorgt werden. Die meisten Schwangerschaftsverluste ereignen sich auf der Toilette, das ist ein unwürdiger Ort. Und wenn die Frauen in eine Klinik gehen, tut das medizinische Personal oft so, als kämen sie wegen einer Kleinigkeit und nicht wegen einer kompletten persönlichen Katastrophe, dem vielleicht schlimmsten Tag in ihrem Leben, an dem sie ihr Kind verlieren.

Ist das auch eine Folge von Unwissenheit? Sie berichten von Mia, die trotz Medizinstudium und mehrerer Praktika beim Gynäkologen erst mit dem Thema Fehlgeburt in Berührung kommt, als sie selbst ihr Kind verliert.

Fehlgeburten sind in der medizinischen Ausbildung kaum Thema. Ausschabung oder Absaugung der Gebärmutter, wie sie nach einem Schwangerschaftsverlust häufig gemacht werden, werden nicht gelehrt. Klar, das sind einfache medizinische Eingriffe, aber vergleichbare Behandlungen werden im Studium zumindest in der Theorie besprochen. Das zeigt, wie tabuisiert das Thema ist und wie nah dran am Thema Abtreibung. Der Schwangerschaftsabbruch wird ja auch nicht gelehrt.

Im Koalitionsvertrag der Ampel steht, dass sie das ändern will.

Bislang ist das aber leider nicht passiert.

Was müsste die Politik in Bezug auf Fehlgeburten ändern?

Aktuell hat man erst ein Recht auf Mutterschutz, wenn man schon in der 24. Woche war oder das Kind über 500 Gramm gewogen hat. Alle anderen sind auf den guten Willen ihres Arztes angewiesen. Ich höre aber immer wieder, dass Frauen nur kurz krankgeschrieben werden oder schon am Tag nach der Ausschabung wieder zur Arbeit geschickt werden. Das muss sich ändern. Und es braucht mehr Geld für die Sprechende Medizin. Aufklärungsgespräche und psychologische Hilfe finden ja häufig nicht statt, weil die Ärzte dafür nicht oder schlecht entlohnt werden.

Ist das nicht auch ein Dilemma? Es braucht Aufklärung. Gleichzeitig sollte Frauen der Kinderwunsch ja nicht durch Angst vor einer Fehlgeburt verleidet werden.

Für mich kommt es auf den Zeitpunkt an. Ich glaube, dass es gut wäre, in der Schule zumindest über die Häufigkeit von Schwangerschaftsverlusten zu sprechen. Wenn die Frau Anfang zwanzig ist, könnte die Frauenärztin das vertiefen. In dem Alter ist man bereit, mehr über die eigene Fertilität zu wissen. Gleichzeitig ist das Thema noch nicht so sensibel wie mit Ende zwanzig, Anfang dreißig.

Als Frau Ende zwanzig, Anfang dreißig, wird man zuweilen selbst von entfernten Bekannten oder Verwandten völlig unverblümt gefragt, wann man denn endlich Kinder bekomme. Bei unerfülltem Kinderwunsch oder nach einer Fehlgeburt kann das sehr schmerzhaft sein. Wie geht man damit um?

Es ist erschreckend, dass es so normal ist, die Frage nach Kindern oder Geschwisterkindern zu stellen. Ich finde das übergriffig und durchaus legitim, das zu spiegeln, indem man sagt, dass das eine sehr persönliche Frage ist, auf die man nicht antworten möchte. Wenn man gerade ein Kind verloren hat oder vergeblich versucht, schwanger zu werden, kann man das natürlich auch ehrlich sagen. Spätestens dann wird das Gegenüber merken, dass solche Fragen verletzend sein können.

Fehlgeburt, Totgeburt, Abort – welcher Begrifft bedeutet was?

  • Von einer Fehlgeburt spricht das Gesetz, wenn eine Schwangerschaft vor der 24. Schwangerschaftswoche endet, wobei das Geburtsgewicht des Kindes unter 500 Gramm liegt.
  • Überschneidend existiert der Begriff Spätabort. Er definiert einen Schwangerschaftsabbruch zwischen der 13. und 24. Schwangerschaftswoche. In der Regel muss die Mutter das Kind spätestens ab der 16. Schwangerschaftswoche gebären, während im früheren Stadium häufig die Spontanausstoßung abgewartet werden kann, häufig gepaart mit einer Ausschabung oder Absaugung der Gebärmutter (Küretage), bei der verbliebene Reste der Plazenta entfernt werden.
  • Wird ein Kind nach der 24. Schwangerschaftswoche tot geboren, gilt es als Totgeburt.
  • Wie Eva Lindner kritisieren auch viele Hebammen und Aktivisten die Begriffe als würdelos und bevorzugen empathische Ausdrücke. Lindner spricht generell von Schwangerschaftsverlust. Stirbt das Kind nach der 24. Schwangerschaftswoche, bieten sich auch die Ausdrücke Stille Geburt oder Stillgeburt an. (Quellen: München Klinik/Eva Lindner: "Mutter ohne Kind")

Wie reagiere ich angemessen, wenn etwa eine Freundin oder Nachbarin eine Fehlgeburt erleidet?

Zu sagen, "Es tut mir leid, was passiert ist", ist sicher nie falsch. Oder einen Kuchen vor die Tür zu stellen, ohne zu klingeln. Darüber hinaus würde ich mich als Zuhörerin anbieten, aber nicht gleich tausend Fragen stellen, sondern die Betroffene selbst entscheiden lassen, ob und wann sie bereit ist, zu erzählen. Wenn es Geschwisterkinder gibt, kann man mal mit denen auf den Spielplatz gehen, damit das betroffene Paar Zeit für sich hat.

Und was sollte man auf keinen Fall tun?

Von Sätzen wie "Du wirst bestimmt bald wieder schwanger" rate ich ab. Auch auf eigene Erlebnisse zu verweisen, in der Annahme, das wäre vergleichbar, kann mehr verletzen, als dass es Trost spendet. Und man sollte auf keinen Fall erwarten, dass das Thema nach ein paar Wochen erledigt ist. Dieser Prozess des Trauerns kann Monate und Jahre dauern, das hat sich deutlich gezeigt in den Gesprächen, die ich für das Buch geführt habe. Für manche Frauen ist er nie ganz abgeschlossen.

Sollte man die Fehlgeburt immer mal wieder ansprechen oder reißt man damit nur Wunden auf?

Ansprechen, unbedingt! Als Betroffene muss man durch diesen Schmerz so oder so durch. Und wenn man nicht mehr danach gefragt wird, fühlt man sich auch noch unverstanden und allein damit.

Wir sprechen die ganze Zeit über die Mütter. Was sagt man dem betroffenen Partner?

Viele Männer fühlen sich in ihrer Trauer übersehen, das wissen wir aus Studien. Man sollte also nicht nur fragen, wie es der Frau oder Freundin geht, sondern auch: "Wie geht es dir damit?".

Chrissy Teigen, Meghan Markle, Michelle Obama – immer mehr prominente Frauen sprechen öffentlich über ihre Fehlgeburten. Hilft das?

Ja, sie sind Vorbilder. Und ob prominent oder nicht: Jede Frau, die von ihrem Erlebnis erzählt, macht eine Tür auf für eine andere, zu sagen: "Mir ist es auch passiert."

Zur Person

  • Eva Lindner, Jahrgang 83, ist freie Journalistin und schreibt unter anderem für die Zeit und die Süddeutsche Zeitung.
  • Ihr Buch "Mutter ohne Kind - Das Tabu Fehlgeburt und was sich ändern muss" ist bei Tropen erschienen. Die gebundene Ausgabe kostet 22 Euro, das E-Book 17 Euro.
  • Lindner lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchterin in Valencia in Spanien.
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