Meinungsfreiheit ist ein Grundrecht in Deutschland. Das bedeutet aber nicht, dass man immer zu allem seinen Senf dazugeben muss. Sich seine eigene Unwissenheit einzugestehen erfordert meist mehr Größe, als blöd daherzuplappern.
Neulich war ich mit einer Freundin und deren fünfjähriger Tochter in der Stadt unterwegs. Es war ein schöner Tag, die Sonne schien und der Kleinen wurde warm. Also setzte sie ihre Mütze ab. Soweit nichts Besonderes.
Eine Frau, die uns samt Mann und Kinderwagen entgegenkam, sah das offenbar anders und sagte im Vorbeigehen kopfschüttelnd und für uns unüberhörbar zu ihrem Mann: "Das arme Kind, so ohne Mütze!" Ich war irritiert, doch meine Freundin zuckte mit den Schultern. "Das ist noch harmlos," sagte sie, "du willst gar nicht wissen, was für Kommentare ich mir tagtäglich anhören muss."
Bei der Erziehung weiß es jeder besser
Die Geschichten, von denen sie mir dann berichtete, haben eines gemeinsam: Sie alle handeln von Fremden, die ungefragt ihre Meinung mitteilen - bestenfalls getarnt als gut gemeinte Ratschläge, schlimmstenfalls in Form von herablassender Kritik, Belehrungen, Schimpftiraden.
Und alles davon ist übergriffig und unhöflich. Ob auf dem Spielplatz, beim Elternabend, im Freundeskreis oder in den sozialen Medien: Warum müssen wir heutzutage andauernd alles kommentieren? Und weshalb verkünden ausgerechnet diejenigen ihre Meinung am lautesten, die behaupten: "Man darf ja heutzutage eh nichts mehr sagen"?
Das Risiko des Schwarz- und Weiß-Denkens
Meinungsaustausch ist nicht nur gut und wichtig, Meinungsäußerungsfreiheit ist auch ein Grundrecht. Kein Grundmuss. Das heißt: Jeder Mensch darf eine Meinung haben, muss aber nicht.
Heutzutage glauben viele, man müsse zu allem eine Meinung haben. Vermutlich verbirgt sich dahinter ein menschliches Grundbedürfnis: das nach Sicherheit. Je schneller sich die Welt dreht, je mehr Informationen auf uns einprasseln, umso schwindeliger wird uns - und umso verzweifelter suchen wir nach Halt, nach einer Haltung.
Dabei bedienen sich Menschen gerne übersichtlicher Schubladen, die für Ordnung sorgen, Orientierung geben und dabei helfen, die Meinung zu finden, die am ehesten mit dem eigenen Weltbild oder persönlichen Erfahrungen vereinbar ist. Problematisch wird es dann, wenn die Kontraste so lange verstärkt werden, bis alle Grautöne verschwinden - und die Schubladen nur noch zwei Farben haben: Schwarz und Weiß.
Doch warum verspüren so viele den Drang, ihre Ansichten, Kommentare und Urteile ungefragt in die Welt hinauszuposaunen? Zum einen, weil viele Menschen sich selbst viel zu wichtig nehmen - und die Bedeutsamkeit ihrer eigenen Meinung überschätzen. Das ist anmaßend.
Alles eine Frage des Blickwinkels
Zum anderen, weil Menschen, die keine Meinung haben, als dumm, schwach oder naiv abgestempelt werden. Was dabei völlig außer Acht bleibt: Wer ein Urteil über etwas fällt, sollte gefälligst Ahnung davon haben. Bei Ja-Nein-Themen mag das leicht sein.
Bei komplexen Sachverhalten hingegen genügt es nicht, von sich auf andere zu schließen oder ein paar YouTube-Clips zu schauen - erst recht nicht in Zeiten, in denen Fakten als Fake News bezeichnet, Verschwörungstheorien mit "Beweisen" unterfüttert und Wissenschaft mit Esoterik vermischt werden.
Also Vorsicht vor Halbwahrheiten, wenn man Pech hat, erwischt man nämlich die falsche Hälfte. Natürlich muss man deshalb kein Experte auf dem jeweiligen Gebiet sein. Zumindest jedoch sollte man das Thema vorher aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet und verschiedene Quellen angezapft haben, statt stumpf irgendwas nachzuplappern.
Falls jemanden meine Meinung interessiert (glücklicherweise steht es hier jedem frei, sie zu lesen oder eben nicht): Haltung zu zeigen bedeutet auch, sich und anderen gelegentlich seine Wissenslücken und damit seine Meinungslosigkeit einzugestehen. Und stattdessen Fragen zu stellen. Oder im Zweifel einfach mal die Klappe zu halten.
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