Aufgrund der massiven Schneefälle sowie auch menschlicher Unvernunft ist es in diesem Winter immer wieder zu tödlichen Lawinen-Abgängen in den Alpen gekommen. Einige der Verunglückten waren sogar mit Lawinen-Airbags ausgerüstet. Warum auch diese Systeme keinen sicheren Überlebensschutz bieten, erklärt Lawinen-Experte Stefan Siegele.
Die Entstehung des Lawinen-Airbags basiert auf einer originellen Geschichte: Als der bayerische Förster Josef Hohenester aus Bad Reichenhall ein erlegtes Stück Wild auf seinen Schultern ins Tal trug, wurde er von einem Schneebrett mitgerissen.
Aufgrund der Volumenerweiterung seines Körpers durch das tote Tier trieb er an der Oberfläche der Lawine. Daraufhin machte Hohenester Versuche, wie sich Kanister und Ballons auf dem Rücken in derartigen Situationen auswirken.
Mitte der 1980er-Jahre kam dann der erste Lawinen-Airbag - auch Lawinen-Rucksack oder ABS (Avalanche Ballon Securesystem) genannt - auf den Markt.
Mittlerweile gehören diese Notfallprodukte zur Standardsicherheitsausrüstung von Skitourengehern und Freeridern, die sich außerhalb der gesicherten Pisten im freien Gelände in den Bergen bewegen.
Sie bestehen aus einem aufblasbaren Ballon, einer Fülleinheit, einer Auslöseeinheit, einem rucksackähnlichen Tragesystem und einem Handgriff für die Auslösung.
So funktioniert ein Lawinen-Airbag
"Es gibt verschiedene Funktionsweisen von Lawinen-Airbags. Die einen werden mit Gaskartusche, die anderen von einem Akku angetriebenen Turbo-Gebläse gezündet", sagt Stefan Siegele, staatlich geprüfter Skilehrer und Bergführer sowie Mitglied der Lawinen-Kommission in Ischgl, im Gespräch mit unserer Redaktion.
Beide Systeme würden nach der Auslösung durch den Handgriff innerhalb von ein bis zwei Sekunden rund 200 Liter Luft in die Ballons blasen, die sich wie Flügel um den Rucksack herum öffnen.
Die neuesten und teuersten Modelle verfügen über eine zusätzliche Funktion: Nach zwei Minuten Stillstand lässt der aufgeblasene Ballon die Luft automatisch ab, was für einen Verschütteten lebensrettende Atemluft bedeuten kann.
Lawinen-Rucksack kann nur Verschüttungsrisiko reduzieren
Stefan Siegele geriet als junger Mann mit Freunden in ein Schneebrett. Dank Lawinen-Airbag ragten sein Kopf und ein Arm aus dem Schnee, sodass er sich selbst ausgraben konnte - glücklicherweise unverletzt.
"Eine Lawine fließt so ähnlich wie Wasser, aber der Schnee wälzt den Skifahrer immer tiefer hinein. Der Airbag drückt den Menschen im Idealfall an die Oberfläche, wodurch er an der Oberkante mitschwimmen kann und den Kopf frei hat zum Atmen", erklärt er.
Ohne Airbag sei man schnell viel tiefer in der Lawine. "Die Vorteile des Airbags sind, dass das Risiko einer Verschüttung verringert sowie der Verschüttungsgrad reduziert werden und der Verschüttete durch die Signalfarbe der Ballons schneller gefunden werden kann", fasst er zusammen.
In diesen Fällen hilft der Lawinen-Airbag nichts
Überlebenssicherheit bietet das Airbag-System trotzdem nicht, denn es hat seine Grenzen. In vielen Fällen kann es keine Hilfe bieten. Beispiel: Wenn Hindernisse wie Felsblöcke oder Bäume auftauchen.
Der in die Lawine geratene Mensch wird von den Schneemassen gnadenlos dagegen gedrückt - egal ob mit oder ohne Airbag -, was oft zu schweren Verletzungen oder gar zum Tod führt.
"Auch wenn dich die Lawine über einen Felsen in die Tiefe reißt und du auf dem nächsten Felsen aufknallst, hilft dir kein ABS-Rucksack der Welt", weiß Siegele, der im Laufe seiner 20-jährigen Berufstätigkeit schon viele Lawinen-Abgänge untersucht hat.
Ebenso wirkungslos erweist sich das System, wenn sich eine Lawine ausläuft und stehen bleibt. Dann begraben die restlichen Schneemassen den vielleicht noch an der Oberfläche liegenden Skifahrer samt Airbag unter sich.
"Die Ballons können ihre Wirkung nur bei Fließbewegungen entfalten, aber nichts ausrichten, wenn man stehend von Schneemassen bedeckt wird", erklärt der Tiroler Lawinen-Experte.
Auch bei großen Lawinen oder Nassschnee-Lawinen habe man trotz Airbag-Rucksacks kaum eine Chance. Manchmal komme eine Lawine auch so schnell und unerwartet daher, dass der Sportler es nicht mehr schaffe, den Handgriff zu ziehen, um den Airbag auszulösen.
Für Schlagzeilen sorgte Mitte Januar eine Gruppe erfahrener Skisportler aus Biberach. Das Quartett war im Skigebiet am Arlberg trotz hoher Lawinen-Warnstufe in einem der gefährlichsten Gebiete abseits der gesicherten Pisten unterwegs.
Obwohl mit Lawinen-Airbags ausgestattet, die auch auslösten, kamen alle vier Männer unter einer Lawine zu Tode. Drei von ihnen wurden per Handyortung sofort gefunden.
Nach dem Jüngsten, einem 28-Jährigen, suchten die Retter vier Tage lang. Weder Handy noch Ortungsgerät des Lawinen-Systems hatten ein Signal von ihm empfangen. Erst eine Lawinen-Sonde entdeckte dessen Leiche, begraben unter zweieinhalb Meter hohen Schneemassen.
Unerlässliche Sicherheitsvorkehrungen trotz Airbag
Solch Unfälle zeigen: Die alpinen Gefahren verringern sich auch mit Lawinen-Airbag nicht. Erst recht nicht, wenn das Risiko bei erhöhter Lawinen-Gefahr in Kauf genommen wird.
Grundsätzlich gelten für jeden Geländeskifahrer laut Stefan Siegele folgende Sicherheitsvorkehrungen: "Lawinen-Piepser (LVS-Gerät), Schaufel, Sonde, kleines Erste-Hilfe-Paket und Helm gehören als Grundausstattung zu jeder Fahrt außerhalb des gesicherten Skiraums dazu."
Das beste Sicherheitskonzept sei eine Kombination aus Ausrüstung und Erfahrung, "denn man sollte schon wissen, wie man mit einem Piepsgerät sucht, eine Lawinen-Schaufel zusammenbaut und sondiert".
Am besten einen Local Guide mieten
Wer keine Erfahrung in puncto Gelände, Schneezusammensetzung und Verhalten bei den unterschiedlichen Lawinen-Warnstufen besitzt, dem empfiehlt er dringend Kurse bei Skischulen, Alpenvereinen oder im Rahmen von Freeride- oder Tourencamps zu besuchen.
Insbesondere in fremden Gebieten zahle es sich aus, einen einheimischen Guide fürs Off-Piste-Fahren zu mieten, "denn der weiß, wo man fahren kann und kann die Gefahrensituation viel besser einschätzen".
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