• Manche Menschen haben das hyperthymestische Syndrom, kurz HSAM. Sie können sich an fast jeden Tag ihres Lebens erinnern.
  • Diese besondere Leistung des Gehirns scheint ein Segen zu sein, wird in Wahrheit aber oft zur Belastung.

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"Mein Gedächtnis ist wie ein Video", sagt Erich Walter, IT-Fachmann aus Viersen. Vermutlich hat er eine äußerst seltene Fähigkeit: Er kann sich alles merken. Das mag vor einer Prüfung hilfreich sein, es macht das Leben aber nicht immer einfacher.

Im Vorwort seines Tagebuchs, das Erich Walter seit 1971 führt, zitiert er ein beliebtes Sprichwort: "Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht vertrieben werden können." Für die meisten Menschen dürfte dieser Satz ein frommer Wunsch bleiben. Auf Erich Walter aber trifft er zu: Der 76-jährige IT-Experte aus Viersen sagt, er könne sich an fast jeden Tag seines Lebens erinnern.

Walter weiß noch genau, wie er 1951 seine Mutter im Schwarzwald besuchte. Wie er frisch gemolkene Kuhmilch trank. Wie französische Soldaten im damals besetzten Baden-Württemberg patrouillierten. Ab seinem fünften Lebensjahr kann er alles, was er selbst erlebt hat, wie auf Knopfdruck abrufen.

"Mein Gedächtnis ist wie ein Video", sagt Walter. Er kann vor- und zurückspulen, oft ploppen bestimmte Szenen aber auch ungewollt auf, wenn man ihn auf bestimmte Phasen seines Lebens anspricht.

Die WM von 1954 vor Augen

Fußball? Sofort sieht er vor sich, wie er 1954 mit seinem Onkel das WM-Finale im Radio verfolgte, wie alle so aus dem Häuschen waren, dass beim 3:2 ein ganzer Nierentisch durch die Gegend flog.

Kindheit? Da kommt ihm ein Zitat seines Vaters in den Sinn: "Erich, lüge nie, so groß ist dein Kopf gar nicht", habe ihm dieser geraten.

Beruf? Hier schildert er detailliert eine Geschäftsreise im Jahr 1991, bei der ein Kollege mit einer "blutjungen Schönheit" ein Hotel betrat. "Ich dachte erst, das sei seine Tochter", sagt Walter und lacht.

Das hyperthymestische Syndrom

Viele Menschen verfügen über ein gutes Erinnerungsvermögen. Erich Walter aber ist überzeugt davon, dass es bei ihm einen Schritt weiter geht. Dass er automatisch alles speichert, was er erlebt. In der Wissenschaft gibt es für ein solches Supergedächtnis einen Begriff: das hyperthymestische Syndrom (HSAM). Die Forschung dazu steht noch ganz am Anfang.

Bekannt wurde HSAM durch die Amerikanerin Jill Price, die darüber ein Buch geschrieben hat ("Die Frau, die nichts vergessen kann"). Price hatte sich zuvor jahrelang von Hirnforscher*innen der University of California untersuchen lassen.

Diese veröffentlichten im Jahr 2006 erstmals ein Paper über den "ungewöhnlichen Fall autobiografischen Erinnerns". Sie kamen zu dem Schluss, dass Price tatsächlich über eine besondere Gabe verfügt – in vielen Medien wurde die Frau sogar als "medizinisches Wunder" gepriesen.

"Tyrannei der Erinnerung"

Die Betroffene selbst kann sich darüber nicht freuen. In ihrem Buch spricht sie schon auf der ersten Seite von der "Tyrannei" ihrer Fähigkeit. Sie sieht sich als "Gefangene ihres Gedächtnisses", weil sie keine Kontrolle darüber hat, welches Erlebnis in ihrem Kopf auftaucht.

Nicht einmal ihre Eltern verstünden, wie es sei, ständig von Erinnerungen geplagt zu werden – auch von negativen Emotionen, die bei anderen im Laufe der Jahre verblassen.

Die Zeit heilt alle Wunden? Nicht mit HSAM.

Erich Walter, der IT-Fachmann aus Deutschland, hat ebenfalls eine Flut von "Videos" im Kopf. Wenn er erzählt, kommt er ungebremst von einer Anekdote zur nächsten – so viele Erinnerungen, so viel Material. In einem Nebensatz sagt er plötzlich: "Meine Frau hat sich ja umgebracht." Danach springt er sofort zum nächsten Thema.

Die Sprunghaftigkeit, die für Außenstehende oft anstrengend ist, belastet den 76-Jährigen aber nach eigenen Angaben nicht. "Ich muss nicht ständig an die Vergangenheit denken", sagt er, "sondern nur, wenn ich darauf angesprochen werde." Hier unterscheidet er sich offensichtlich von Jill Price.

Tagebuch mit 2,8 Millionen Wörtern

Um seine Gedanken zu ordnen, führt Walter konsequent Tagebuch. In einer Word-Datei hat er 2,8 Millionen Wörter auf 6.090 Seiten zu Papier gebracht – natürlich kennt er auch diese Statistik. Warum er das macht? "Es gibt Rentner, die gucken sich Trödelsendungen an", sagt er. Was wohl heißen soll: Ich habe eben dieses Hobby.

Weil er viel im Internet surft, stößt er am 24. Juli 2015 auf einen Zeitungsbericht, in dem das hyperthymestische Syndrom beschrieben wird. "Da dachte ich: Das bin ich", sagt Walter. Fortan gibt er selbst Interviews zu dem Thema, um andere über HSAM zu informieren.

Betroffene sind häufig depressiv

So gut er seine Erinnerungen auch unter Kontrolle hat: An anderer Stelle bereitet ihm sein besonderes Gehirn aber doch Probleme: Der 76-Jährige leidet an einer bipolaren Störung, war wegen Depressionen schon in stationärer Behandlung. "In manischen Phasen explodiert mein Gehirn", beschreibt er seinen Zustand.

Auch Jill Price – die Frau, die nie vergisst – litt lange an Depressionen. Ob beides zusammenhängt? Das ist unklar. Die Wissenschaft hat bisher nur eine Vermutung: Wenn das Gehirn nichts aussortiert, fällt eine wichtige Schutzfunktion weg. Erinnerungen werden zur Belastung.

An der Universität Basel beschäftigt sich Andreas Papassotiropoulos mit HSAM. Der Professor für Molekulare Neurowissenschaften möchte herausfinden, ob es eine genetische Ursache für das Phänomen gibt. Dazu untersucht er DNA-Proben von Betroffenen, die er aus den USA erhalten hat.

Noch ist ihm der Durchbruch nicht gelungen, aber wenn doch, könnten sich damit vielleicht auch andere Fragen klären: Warum vergessen wir? Warum merken wir uns Dinge?

Häufiger als Burn-out: "Burn-on" als Dauerzustand

Ein Hamsterrad führt uns nirgendwohin. Doch manchmal sind wir so darin gefangen, dass wir das gar nicht mehr bemerken. "Burn-on" nennen Psychologen solch einen Dauerzustand der Erschöpfung, vor dem wir in unserem Podcast "15 Minuten fürs Glück" warnen wollen. (Foto: istock/Cecilie Arcurs)

Online-Test für HSAM-Betroffene

Vor einigen Jahren hat Papassotiropoulos einen Aufruf im deutschsprachigen Raum gestartet, um Betroffene zu finden. Erich Walter war nicht unter ihnen. Von Tausenden Zuschriften, die eingegangen seien, habe am Ende niemand tatsächlich HSAM gehabt, sagt der Forscher. Er hat dafür einen Test verwendet, den Forschende der University of California entwickelt haben.

Darin müssen die Proband*innen detailliert beschreiben, was ihnen vor einem Monat, einem halben Jahr und einem ganzen Jahr passiert ist. Zudem gibt es Multiple-Choice-Fragen: An was erinnern sie sich besonders gut – an die Kleidung, die sie an einem bestimmten Tag getragen haben, das Wetter oder das Essen? Wer glaubt, HSAM zu haben, kann den Test auch direkt online ausfüllen.

Die Wissenschaft geht gegenwärtig davon aus, dass weltweit lediglich 60 Personen ein solches Supergedächtnis haben. Genau weiß es aber niemand, die Dunkelziffer könnte hoch sein.

Umgekehrt stellt sich die Frage, ob diejenigen, die es behaupten, auch wirklich betroffen sind. Erich Walter aus Viersen hat noch keine solche Diagnose. Er selbst zweifelt an so manchen Schilderungen, die andere HSAM-Personen von sich geben. "Eine Frau hat angeblich schon gesehen, wie sie aus dem Mutterleib gekommen ist", sagt Walter. "Das ist doch Blödsinn."

E-Mails kann er nicht zitieren

Also eine Probe aufs Exempel: Was ist am 3. März 1972 in der Welt passiert?

Walter winkt ab: Statt genaue Daten im Kopf zu haben, könne er sich nur an selbst Erlebtes erinnern, und auch dies nicht immer mit genauem Datum. Auch die Mail mit der Interview-Anfrage für diesen Artikel kann er nicht wörtlich zitieren.

Müsste das aber nicht automatisch so sein bei jemandem, der sich alles merkt?

Der Neurowissenschafter Papassotiropoulos glaubt, dass das eine das andere nicht ausschließt. "Das Zitieren einer E-Mail, die man kürzlich erhalten hat, fällt unter die Kategorie des episodischen Gedächtnisses", erklärt der Professor. Dort zeigten auch HSAM-Individuen nur durchschnittliche Leistungen. "Es ist das autobiografische Gedächtnis rund um selbst Erlebtes, das enorm stark ausgeprägt ist."

Genau so beschreibt es Erich Walter auch. Er sieht sich nicht als Übermensch, hat keine Kasinos abgezockt oder Serienmörder hinter Gitter gebracht. Stattdessen arbeitete er jahrelang als Chief Information Officer bei der Supermarktkette Kaiser’s Tengelmann.

Der Fehler-Detektor

Im zwischenmenschlichen Bereich ist ein Supergedächtnis längst nicht immer nützlich. "Im täglichen Leben gehe ich damit nicht hausieren", sagt Walter. Aber wenn jemand offensichtlich etwas Falsches erzähle, müsse er widersprechen.

So wie kürzlich beim Kegeln. Ein Kegelbruder behauptete, im Winter 1963 gegen Günter Netzer Fußball gespielt zu haben. Sofort lief der Videostream in Erich Walters Kopf ab: der harte Winter 1963. Der Kachelofen im Wohnzimmer. Eisblumen am Fenster. Aber: kein Fußballturnier.

"Sogar der Rhein war damals zugefroren", erinnert sich Walter. Die Spiele seien abgesagt worden. "Wir sind erst spät im Mai Kreismeister geworden, und es gab keine Zeit, die Niederrhein-Meisterschaft zu spielen." Fast sechzig Jahre sind seitdem vergangen, aber für ihn ist es so, als wäre es gestern gewesen.

Manche nehmen ihm seine peniblen Erinnerungen übel. "Meine Kegelbrüder wetten nicht mehr mit mir", sagt Walter. "Sie sagen dann: ‚Der weiß eh schon alles.‘"

In solchen Fällen denkt er lieber an die nützlichen Dinge, die ihm seine Fähigkeit bietet, zum Beispiel bei der Orientierung: Erich Walter verirrt sich fast nie. Schließlich kennt er jede Straße, in der er schon einmal war.

Verwendete Quellen:

  • Spiegel: Frau mit perfektem Gedächtnis: "Mein Kopf zeichnet jede Minute meines Lebens auf"
  • Psychology Press: A Case of Unusual Autobiographical Remembering
  • Universität Basel: Prof. Dr. Andreas Papassotiropoulos
  • Formstack: HSAM Form: Autobiographical Memory Questionnaire
Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter. Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

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