Die meisten kennen Pilze nur als Belag auf der Pizza, als lästigen Schimmel auf dem Brot oder vielleicht noch als nützliche Bier- und Backhefen. Doch Pilze können viel mehr: Seit einigen Jahren entdecken Wissenschaft und Unternehmen sie als Baustoff. Verpackungsmaterialien, Dämmstoffe und Lederalternativen aus Pilzen werden bereits angeboten, an weiteren Verwendungen wird geforscht.

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Die Vorstellung vom Waldpilz mit Hut und Stiel gilt nur für einen kleinen Teil der Pilze als Lebewesen, nämlich ihren Fruchtkörper. Hauptsächlich bestehen Pilze aus mikroskopisch kleinen Fäden im Boden, den sogenannten Hyphen. Die Gesamtheit der Hyphen wird als Myzelium oder Myzel bezeichnet. Und dieses Myzel birgt das Potenzial, in einigen Bereichen Kunststoffe zu ersetzen und natürliche, nachhaltige und kompostierbare Produkte herzustellen.

Bei Candle Shack, einem niederländischen Anbieter von Kerzenherstellungszubehör, kann man sich Kerzengläser in einer Pilzverpackung schicken lassen. Als Merkmale der Verpackung werden unter anderem genannt: nachhaltig, frei von Plastik, feuchtigkeitsabweisend, vegan und tierversuchsfrei, geruchsfrei sowie biologisch abbaubar innerhalb von 40 Tagen, wenn sie kompostiert wird. Außerdem ist Pilzmyzel in der Regel schwer entflammbar, thermisch isolierend und sehr leicht, was es als Werk- und Baustoff interessant macht.

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Der Möbelhersteller Wilkhahn in Bad Münder bemüht sich schon lange um nachhaltige Materialien. Das Unternehmen nahm an der niederländischen Gartenbauausstellung Florinade 2022 mit einer Ausstellung von Stühlen teil, die mit Pilzmaterial gepolstert waren. Die Stühle waren das Ergebnis des Forschungsprojekts "Nachhaltige Polstermöbel" der niederländischen Stiftung SIGN, an dem sich Wilkhahn beteiligte. "Die Idee war, Formschaumteile durch Myzelien zu ersetzen", erklärt Michael Englisch, Leiter des Bereichs Design und Entwicklung bei Wilkhahn.

Welche Pilze sind als Werk- und Baustoff geeignet?

Pilze lassen sich nach ihrer Ernährungsweise in zwei ökologische Gruppen einteilen, erklärt der Pilzforscher Norbert Arnold vom Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie in Halle (Saale): Die Mykorrhiza-Pilze bilden überwiegend Symbiosen mit Pflanzen, indem sie die Versorgung der Wurzeln mit Phosphat, Nitrat und Wasser verbessern und dafür einen Teil der von der Pflanze produzierten Kohlenhydrate erhalten.

Saprophyten, etwa Baumpilze, ernähren sich hingegen von organischem Material. "Grundsätzlich sind alle Saprophyten für die Herstellung von Werkstoffen geeignet", sagt Arnold. Für die praktische Anwendung sei es jedoch wichtig zu wissen, wie schnell die Pilzmyzelien wachsen und wie intensiv sie das Substrat durchdringen. Denn als Nahrungsgrundlage erhalten die Pilze land- und forstwirtschaftliche Abfallprodukte, wie Getreidereste, Hanfschäben, Sägespäne oder Hackschnitzel. Diese dienen als Substrate und werden vom Myzel durchwuchert, teilweise verzehrt und die Reste ins Geflecht eingebunden. Durch die Verwendung von biologischem Abfall ist die Pilzmaterialherstellung nachhaltig und kann zum Bestandteil einer Kreislaufwirtschaft werden.

Vor der Besiedlung mit Myzel wird die Substanz erhitzt, um Keime abzutöten, ähnlich wie bei pasteurisierter Milch. Dann wird es mit dem Pilzmyzel vermischt und in eine Form gegeben. Bei ausreichender Wasserversorgung wachsen die Myzelien bei Zimmertemperatur. Um das Wachstum zu beschleunigen, kann auch eine erhöhte Temperatur in einem Brutschrank verwendet werden. Licht ist für das Wachstum nicht nötig, weil die Myzelien auch in der Erde ohne Licht gedeihen. Sobald das Myzel die Form vollständig ausfüllt, wird es auf etwa 70 Grad Celsius erhitzt, sodass es abstirbt. Das Material kann dann roh verwendet oder weiterverarbeitet werden.

"Je nach Rezeptur und Prozessführung entsteht nach zwei bis drei Wochen im Brutschrank ein lederähnlicher Stoff", fasst Hannes Hinneburg, Wissenschaftler am Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung IAP, den Herstellungsprozess von Pilzleder zusammen. Während Tierleder durch Gerben haltbar gemacht wird, können beim Pilzleder Wachse, Additive und Überzüge zum Einsatz kommen. Diese seien bisher überwiegend nicht biologischer Herkunft, gibt Hinneburg zu bedenken, sodass entsprechende Produkte nur zu etwa 95 Prozent biologisch abbaubar seien. Aber biogene Zusatzstoffe seien bereits in der Laborphase, berichtet der Forscher.

Ob sich Pilzmaterialien auf dem Markt durchsetzen können, hänge in hohem Maß vom Preis ab, betont Hinneburg. So gehe es bei der Suche nach einer Pilz-Substrat-Kombination oft nicht um optimale Bedingungen, sondern darum, was günstig sei. Pilzleder sei vermutlich eher durchsetzungsfähig, weil die Produkte in einem höheren Preissegment angeboten werden können. Für Hinneburg sind Waren aus Pilzmaterialien ein "Nischenprodukt mit Potenzial". Derzeit sei der Herstellungsprozess bei Start-up-Firmen oft noch zu teuer.

Um Pilzmaterialien erfolgversprechend auf den Markt bringen zu können, denkt Philipp Eversmann von der Universität Kassel an automatisierte Herstellung. In seinem aktuellen Projekt erforschten er und seine Mitarbeitenden, wie Myzelium automatisiert, ähnlich wie in einem 3-D-Druckverfahren, aufgebracht und der Wachstumsprozess vollautomatisch gesteuert werden kann. Wenn das erreicht ist, können Produkte aus Pilzmaterial in großer Stückzahl hergestellt werden und könnten dann zu konkurrenzfähigen Preisen auf dem Markt angeboten werden.

Pilze wachsen schneller als Bauholz

Eversmann setzt auf ein Kompositmaterial mit einem ähnlichen Aufbau wie Stahlbeton. Um großflächiges Myzelium stabiler zu machen, enthält ein Bauteil zur Verstärkung eine sogenannte Bewehrung - in diesem Fall nicht aus Stahl, sondern aus dem nachwachsenden Rohstoff Holz. Anfangs musste noch Klebstoff verwendet werden, um das Holzgitter zu erstellen, doch das Forschungsteam fand eine umweltfreundlichere Alternative: Die Berührungspunkte des Gitters werden durch Ultraschall miteinander verbunden. Der Pilz verzehrt zwar hauptsächlich das Substrat, aber auch ein wenig vom Holzgitter, sodass sich Myzelium und Bewehrung fest miteinander verbinden.

"Der Pilz wächst in zwei bis drei Wochen einfach in die gewünschte Form hinein."

Philipp Eversmann von der Universität Kassel über die Vorteile von Pilzen als Baustoff

"Bauholz benötigt 30 bis 70 Jahre zum Wachsen und muss dann noch in die gewünschte Form gebracht werden, der Pilz wächst in zwei bis drei Wochen einfach in die gewünschte Form hinein", legt Eversmann die Vorteile des neuen Baustoffs dar. So belastbar wie Holz ist das Ergebnis zwar nicht, dafür aber sehr leicht: Zwischenwände mit Pilzmaterial vom Glänzenden Lackporling (Ganoderma lucidum), auch als Reishi-Pilz bekannt, mit den Maßen 2,5 auf einen Meter können von einer Person angehoben und versetzt werden.

Die beiden Pilzforscher Arnold und Hinneburg verweisen auf die USA, die bei der Nutzung von Myzelien als Werkstoff schon deutlich weiter seien als europäische Länder. Im Bundesstaat New York gründeten zwei Studenten 2007 das Unternehmen Ecovative Design, das bis heute eine führende Rolle bei der Herstellung von pilzbasierten Materialien und Produkten einnimmt. Inzwischen ist es ihnen gelungen, nicht nur Pilz-Substrat-Komposite herzustellen, sondern auch reines Myzelium (in sogenannten "AirMycelium Vertical Farms").

Pilzmaterial-Verpackungen von Ecovative Design werden mittlerweile vom Computerhersteller Dell, von Puma und von IKEA anstelle von Polystyrol (Styropor) für den Versand ihrer Produkte genutzt. So ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, dass deutsche Verbraucher mit Material aus Pilzen in Berührung kommen. Ein vergleichbares biologisches und nachhaltiges Material, das je nach Produktionsbedingungen elastisch, strapazierfähig und reißfest, weich, dicht oder offenporig sein kann, gibt es derzeit nicht.

Über die Gesprächspartner

  • Michael Englisch leitet den Bereich Design und Entwicklung bei der Firma Wilkhahn GmbH & Co. KG, einem Möbelhersteller mit Sitz in Bad Münder am Deister.
  • Dr. Norbert Arnold leitet am Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie (IPB) in Halle (Saale) die Arbeitsgruppe Naturstoffe & Metabolomik, die Forschung zu Inhaltsstoffen von Pilzen betreibt.
  • Dr. Hannes Hinneburg ist Wissenschaftler am Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung im Potsdam Science Park und nachhaltige Materialien aus Pilzmyzel
  • Prof. Philipp Eversmann ist Universitätsprofessor mit dem Fachgebiet Experimentelles und Digitales Entwerfen und Konstruieren an der Universität Kassel.

Verwendete Quellen

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