Anne Will "gendert" neuerdings beim Sprechen. Nimmt sie einen gesellschaftlichen Trend auf – oder schafft sie erst einen? Ein Sprachwissenschaftler klärt auf.

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Mindestens genauso wichtig wie Corona oder Sparvorschläge des Bundes der Steuerzahler war in Anne Wills Talkshow am Sonntagabend eine kleine sprachliche Besonderheit: Die Moderatorin sprach von "SteuerzahlerInnen" – mit einer Mikrosekunde Pause zwischen "-zahler" und "-Innen". Gendersprache im Fernsehen – bei Twitter herrschte große Aufregung. Sprachwissenschaftler Henning Lobin erklärt im Interview, worum es geht.

Anne Will "gendert" neuerdings beim Sprechen. Nimmt sie einen gesellschaftlichen Trend auf – oder schafft sie erst einen?

Henning Lobin: Es gibt auf jeden Fall gesellschaftliche Gruppen, denen das "Gendern" ein Bedürfnis ist. Und es kennzeichnet unsere Gesellschaft, dass solche Gruppen ihre Interessen klar und deutlich artikulieren. Die Medien greifen das auf und verstärken es dadurch – das ist normal, so entstehen manchmal Veränderungen.

Wo kommt das Bedürfnis her, bestimmte Gruppen sprachlich sichtbarer zu machen?

Begonnen hat das mit der feministischen Linguistik in den 1970er Jahren. Es wurde angestrebt, dass Frauen in der Sprache deutlicher zur Geltung kommen sollten. Seit damals haben sich in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen, vor allem an den Universitäten, Aspekte der Geschlechtersprache durchgesetzt. Zum Beispiel, dass man nicht mehr von Studenten, sondern von "Studenten und Studentinnen" oder "Studierenden" spricht. Oder dass man eben "StudentInnen" schreibt.

Sprach man damals schon von Gendergerechtigkeit?

Nein, in den Anfängen ging es vor allem um Geschlechtergerechtigkeit. Und genaugenommen geht es auch bei der jetzigen Frage, wie man bestimmte Begriffe ausspricht, nach wie vor um das geschlechtsspezifische Kenntlichmachen. In der Genderdiskussion wird oft für die Schrift statt des sogenannten Binnen-I – wie bei "StudentInnen" – das Sternchen verwendet, also "Student*innen". In dieser Schreibweise wäre dann auch das "soziale" oder "diverse" Geschlecht mitgemeint – aber dafür ist in unserem Sprachsystem nichts angelegt.

Ist es nicht illusorisch anzunehmen, dass Frauen besser wahrgenommen werden, wenn man die Sprache verändert?

Ganz und gar nicht. Wenn ein Begriff wie "Schauspieler" in der männlichen Form auch Frauen "mitmeinen" soll, spricht man in der Sprachwissenschaft vom "generischen Maskulinum". Der steuert, wie viele Untersuchungen zeigen, unsere Vorstellungen und Erwartungen. Wenn Sie mit Kindern über Berufswünsche sprechen und dabei von "Feuerwehrmännern" reden, bekommen sie ein anderes Ergebnis, als wenn sie von "Feuerwehrleuten" sprechen. Wenn Sie Menschen nach ihrem Lieblingsschauspieler fragen, kommen in den Antworten signifikant mehr Männer vor, als wenn Sie nach "LieblingsschauspielerInnen" fragen. Wir haben auch aus wesentlich komplexeren psychologischen Versuchsaufbauten klare Hinweise, dass das generische Maskulinum oft nicht als "neutrales Geschlecht" funktioniert. Es prägt stattdessen die Wahrnehmung und die Entscheidungen zulasten der Frauen.

Warum lehnen viele Menschen diese Erkenntnis ab?

Vielleicht lehnen sie sie gar nicht ab, sondern folgen einfach der sprachlichen Gewohnheit. Dabei sieht man sogar in der Sprachgeschichte, dass unsere Sprache nicht immer so war. Schon im 18. Jahrhundert wurde von "Schauspielerinnen und Schauspielern" gesprochen – man ging also damals nicht unbedingt davon aus, dass in der männlichen Form die weibliche enthalten sei. Mir scheint, heute dienen vielfach Appelle gegen den sogenannten "Gender-Unfug" vor allem der politischen Verortung. Neben dem identitätspolitischen Statement demonstrieren manche damit auch ihre grundlegende politische Überzeugung. Deshalb hat die AfD im Vergleich mit den anderen im Bundestag vertretenen Parteien mit Abstand die meisten sprachpolitischen Positionen in ihrem Programm.

Zurück zu Anne Will und dem hörbaren "Gendern" bei den "SteuerzahlerInnen": Kann sich solch eine Sprachveränderung in der Gesellschaft durchsetzen?

In der Tat ist das vorstellbar. Wenn es schon bis ins Fernsehen durchdringt, kann sich solch ein Wandel auch weiter ausbreiten. Das kam übrigens nicht nur bei Anne Will vor – ich habe erst kürzlich auch bei Claus Kleber im "Heute journal" den "glottalen Verschlusslaut" gehört, wie das in der Phonetik heißt. Diesen Laut gibt es auch in unserer sonstigen Sprache, etwa wenn Sie das Wort "aktuell" mit einer kurzen Unterbrechung aussprechen, also wie "aktu-ell" oder bei "ide-al". Das wäre kein sprachlicher Systembruch – das kriegt jeder hin. Und es erweist sich offenbar als ein Weg, die Doppelnennung effektiv zu verkürzen.

In welchen Zeiträumen setzen sich Veränderungen in der gesprochenen Sprache durch?

Das ist sehr unterschiedlich. Grammatische Veränderungen im Grundgerüst der Sprache können tausend Jahre dauern, neue Wörter dagegen bürgern sich sehr schnell ein, dazwischen liegen morphologische Veränderungen. Zurzeit erleben wir etwa das zunehmende Auslassen von Akkusativ-Endungen: "Ich sehe dein‘ Freund" – da tut sich momentan einiges. Unsere Sprache ist aber eng mit der Schrift verbunden, man nimmt die Differenz zwischen Schrift und Sprache deutlich wahr, das bremst die Entwicklung. Wir können also letztlich nicht einmal sagen, ob sich die Veränderungen überhaupt durchsetzen werden, auch wenn es schon viele Menschen gibt, die stark aufs Gendern setzen – in Universitäten und der öffentlichen Verwaltung etwa.

Prof. Dr. Henning Lobin ist Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache und Professor an der Universität Mannheim.

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