Die Impfsaison beginnt und die Fachleute sind sich einig: Ab Herbst und Winter werden die Corona-Zahlen wieder deutlich ansteigen. Was bedeutet das? Müssen wir uns Sorgen machen? Sechs Expertinnen und Experten antworten.

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"Covid-19 ist kein Schnupfen. Es ist kein grippaler Infekt", heißt es in einem offenen Brief, den 16 österreichische Mediziner und Medizinerinnen kürzlich an ihre Ärztekammer geschrieben haben. Darin fordern sie, Corona-Schutzmaßnahmen in Krankenhäusern und Arztpraxen wieder einzuführen. FFP2-Masken sollten demnach bei steigenden Infektionszahlen vorgeschrieben sein und Luftfilter eingesetzt werden. Denn Covid-19 sei eine systemische, gefäßschädigende Erkrankung, die sich lediglich über den respiratorischen Weg, also die Atmungsorgane, über Aerosole ausbreite.

Die Initiatorin, die Medizinerin Golda Schlaff, kritisiert in dem Brief, dass Patientinnen und Patienten dem Coronavirus ansonsten ungehindert ausgesetzt seien und eine womöglich folgenschwere Covid-19-Erkrankung quasi aufgezwungen bekämen. Gegenüber dem österreichischen "Der Standard" nennt sie als fiktives Beispiel einen Herzpatienten, der sich nach einer Operation in der Klinik mit Sars-CoV-2 ansteckt. Nach einer solchen Operation sei das Thrombose-Risiko wesentlich erhöht, wie auch bei einer Corona-Infektion: "Das ist keine gute Kombination."

Müssen wir uns also wieder Sorgen machen? Oder ist Covid-19 jetzt doch eine ganz normale Erkältungskrankheit, wie hin und wieder zu lesen ist? Wie schätzen Fachleute das Virus und die Krankheit, die es verursacht, Covid-19, aktuell ein? Die schriftlich kommunizierten Antworten von sechs Expertinnen und Experten.

Christine Falk: "Hirn einschalten und selbst überlegen"

  • Christine Falk ist Biologin und Professorin am Institut für Transplantationsimmunologie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Bis 2023 war sie außerdem Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Immunologie und Mitglied im Corona-ExpertInnenrat der Bundesregierung, dessen Arbeit mit der 33. Sitzung am 4. April 2023 endete.

"Für immungesunde Menschen unter 60 Jahren, die idealerweise dreimal geimpft und meistens auch mindestens einmal genesen sind, reiht sich das Coronavirus Sars-CoV-2 tatsächlich nun in die anderen Erkältungsviren ein. Je nach Abstand zum letzten Spike-Kontakt, durch Impfung oder Infektion, kann man sich zwar wieder anstecken, weil die Schleimhaut-Immunität nicht so lange anhält und sehr individuell ist. Aber das ist dann eben eine Erkältung: lästig, aber so, wie andere auch.

Allerdings sollte die Öffentlichkeit darüber informiert werden, dass die Stiko eine Auffrischimpfung mit angepasstem Impfstoff für die bekannten Risikogruppen empfiehlt: Das sind Immunsupprimierte, ältere Menschen beziehungsweise Menschen im nahen Umfeld von Immunsupprimierten. Dies kann man auch gegebenenfalls mit der Grippe-Impfung kombinieren, für die es ebenfalls eine Stiko Empfehlung gibt.

Wer beispielsweise einen wichtigen Termin hat und sich nicht anstecken möchte, egal mit welchem Atemwegsinfekt, kann ja auch in engen Räumen mit vielen Menschen – etwa im Zug – einfach eine Maske aufsetzen. Das bleibt ja jeder und jedem selbst überlassen. Also 'das Hirn' einschalten und selbst überlegen, wie die eigene Historie mit Corona ist. Das ist eine gute Strategie für den Herbst und Winter – solange alles bei der Omikron-Familie bleibt, wonach es zum Glück aussieht."

Friedemann Weber: "Kein normales Erkältungsvirus"

  • Der Virologe Friedemann Weber untersucht mit seiner Forschungsgruppe an der Justus-Liebig-Universität Gießen, wie RNA-Viren, zu denen auch Corona- oder Influenza-Viren gehören, versuchen, dem angeborenen Immunsystem zu entkommen.

"Sars-CoV-2 ein normales Erkältungsvirus? Die Antwort ist leider: Nein. Die Situation ist zwar aufgrund der hohen Bevölkerungsimmunität eine ganz andere als in der Anfangszeit der Pandemie. Doch selbst wenn wir es mit der saisonalen Grippe vergleichen, die auch keine harmlose Erkältung ist, so gibt es bei Covid-19 immer noch häufiger schwere Verläufe. Sars-CoV-2 kann nicht nur den Atemtrakt befallen, sondern auch Blutgefäße und innere Organe schädigen. Zudem kann die Infektion zu Long Covid führen, was eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensqualität bedeutet."

Ulf Dittmer: "Corona ist eher auf dem Niveau der richtigen Grippe"

  • Ulf Dittmer vom Institut für Virologie der Uniklinik Essen, erforscht chronische Virusinfektionen beziehungsweise wie etwa Herpes- oder bestimmte Hepatitisviren der Immunabwehr entkommen und sich dauerhaft im Körper niederlassen. Kaum ein deutscher Virologe hat so gute Kontakte nach China wie Ulf Dittmer. Gerade zu Beginn der Pandemie bestand ein enger Austausch mit Forschenden der Universitäten in Wuhan und Shanghai über das neu aufgetretene Coronavirus Sars-CoV-2.

"Nein, Covid-19 ist noch keine normale Erkältung. Das sind ja Erkrankungen, die wir als harmlosen grippalen Infekt bezeichnen. Corona befindet sich aber eher auf dem Niveau der richtigen Grippe – also Influenza. Wir haben weiterhin ein paar Covid-Patienten, die bei uns in der Klinik für ein paar Tage Sauerstoff benötigen. Allerdings sehen wir zum Glück fast keine schweren Erkrankungen mehr, die auf der Intensivstation enden. Der Vergleich zur Grippe, an der jeden Winter Menschen aus Risikogruppen sterben, passt also eher als der Vergleich zu dem, was wir unter einer 'Erkältung' verstehen. Zumal wir nicht genau wissen, wie viele Long-Covid-Fälle durch aktuelle SARS-Infektionen noch entstehen."

Jana Schroeder: "Bei Covid-19 kommt es zu ausgeprägteren Folgeschäden als nach einer Influenza-Grippe"

  • Jana Schroeder ist Fachärztin für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie und Chefärztin des Instituts für Krankenhaushygiene und Mikrobiologie der Mathias-Stiftung in Rheine. Während der Pandemie hat sie sich in der Öffentlichkeit besonders gegen Wissenschaftsleugnung und für den Infektionsschutz von Kindern eingesetzt.

"Zunächst stellt sich die Frage, was eine 'ganz normale Erkältung' ist, denn das ist ja ein Sammelsurium aus vielen verschiedenen Erregern. Sars-CoV-2 ist als ein neues Coronavirus hinzugekommen. Alle diese Erreger haben gewisse Charakteristika. Auch Influenza, also die echte Grippe, ist ein saisonales Virus. Influenza unterscheidet sich vor allem durch die Schwere, aber auch durch andere Eigenheiten wie zum Beispiel durch hohes Fieber und einen plötzlichen Beginn, von anderen saisonalen Erkrankungen der Atemwege.

Die individuelle Sterblichkeit der akuten Covid-Erkrankung hat sich mittlerweile der Influenza angenähert. Sie liegt allerdings immer noch eineinhalbmal über der Influenza. Dass die Sterblichkeit durch Covid-19 gesunken ist, liegt vor allem an der Impfung, der Immunität durch vorangegangene Infektionen aber auch an verbesserten Therapiemöglichkeiten und der vorherrschenden Omikron-Variante.

Ein weiterer relevanter Unterschied ist, dass Influenza im Gegensatz zu Sars-CoV-2 üblicherweise nur wenige Monate im Jahr auftritt. Sars-CoV-2 ist außerdem ansteckender. Es infizieren sich also mehr Menschen über einen längeren Zeitraum. Auch Mehrfachinfektionen innerhalb kurzer Zeit sind möglich. Das führt insgesamt zu mehr Todesfällen und mehr krankheitsbedingten Ausfällen. Eine Saisonalität ist (noch?) nicht komplett erreicht.

Hinzu kommen ausgeprägtere Folgeschäden bei Covid im Gegensatz zu Influenza, denn Covid ist eine Multisystemerkrankung. Menschen, die aufgrund von Covid-19 im Krankenhaus behandelt werden mussten, zeigen im Vergleich zu hospitalisierten Influenza-PatientInnen im Zeitraum von sechs Monaten nach der Infektion ein höheres Sterberisiko und müssen häufiger ambulante, diagnostische und therapeutische Maßnahmen in Anspruch nehmen.

Je nach Datenbasis, Falldefinition und Methodik kommen unterschiedliche Studien zu sehr unterschiedlichen Schätzungen über den jeweiligen Prozentsatz der Folgeprobleme durch Covid-19. Es gibt Hinweise darauf, dass die Häufigkeit von gesundheitlichen Langzeitfolgen durch die Impfung reduziert werden kann, dass sie sich je nach Virusvariante unterscheidet und bei Omikron bisher am geringsten ausgeprägt ist. Die Bundesärztekammer geht in einer Stellungnahme von vier Prozent bei dreimal Geimpften aus."

Birgit Weinberger: "Für ältere Menschen und Risikogruppen kann Covid-19 eine sehr schwere Erkrankung sein"

  • Birgit Weinberger ist Immunologin. Sie arbeitet am Institut für Biomedizinische Alternsforschung der Universität Innsbruck. Dort beschäftigt sie sich hauptsächlich mit dem alternden Immunsystem, zum Beispiel damit wie die Körperabwehr von alten Menschen auf Impfungen reagiert.

"Ich würde COVID-19 nicht als normale Erkältungskrankheit bezeichnen. Das würde ich aber zum Beispiel bei Influenza auch nicht machen. Gerade für Risikogruppen und ältere Menschen kann beides eine sehr schwere Erkrankung sein.

Meiner Meinung nach wird sich COVID-19 als wahrscheinlich saisonale respiratorische Erkrankung neben Influenza, RSV etc. etablieren. Wie ausgeprägt dann die Krankheitslast langfristig sein wird – ein bisschen mehr als Influenza oder ein bisschen weniger –, wird sich zeigen, aber ich würde schätzen, dass sich das ungefähr in einem ähnlichen Bereich einpendeln wird. Man muss aber bedenken, dass diese Krankheitsfälle dann wohl zusätzlich zu den bisherigen saisonalen respiratorischen Infekten auftreten werden. In Summe wird man also mehr Krankheitslast sehen als vor 2019/2020. Die langfristige Häufigkeit von Long Covid ist auch noch sehr schwer abzuschätzen."

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Marcus Panning: "Die Gefährdung durch das Coronavirus muss man individuell abschätzen"

  • Marcus Panning ist Virologe am Universitätsklinikum Freiburg. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Diagnostik neu auftretender Viruserkrankungen. In einem Projekt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird, beschäftigt sich das Team von Panning mit der genetischen Entwicklung, der Evolution von Sars-CoV-2 in Patienten mit einer Immunschwäche.

"Wir befinden uns immer noch in einer – zurzeit noch ruckelnden – Übergangsphase hin zu einem endemischen Virus. Vermutlich reiht sich Sars-CoV-2 ein in den Kreis anderer endemischer Viren, die in Abhängigkeit zur Jahreszeit unterschiedlich häufig auftreten. Es gibt inzwischen eine breite Immunität gegen das Virus in der Bevölkerung – entweder durch Impfungen und/oder durch Infektionen. Allerdings gibt es immer noch Bevölkerungsgruppen, Immungeschwächte und Ältere, die vorsichtig sein müssen. Die Gefährdung durch das Coronavirus muss man aktuell noch sehr individuell abschätzen, mit der Bezeichnung Erkältungsvirus würde ich vorsichtig sein.

Überall dort, wo sich potenziell gefährdete Menschen aufhalten – in Krankenhäusern, Seniorenheimen, Arztpraxen – sollten, wenn die Infektionszahlen wieder deutlich höher gehen, effiziente Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Dazu gehört zum Beispiel auch das Tragen von Masken. Diese Maßnahmen schützen ja nicht nur vor Sars-CoV-2, sondern auch vor Influenza-Viren oder dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV)."

Fazit

Die Mehrheit der befragten Fachleute ist der Ansicht, dass das Coronavirus aktuell kein normales Erkältungsvirus ist. Wie hoch das Risiko ist, nach einer Infektion schwer zu erkranken, muss individuell abgeschätzt werden. Ältere und Immungeschwächte sind besonders gefährdet. Sars-CoV-2 kann Langzeitschäden, Long Covid, hervorrufen.

Unter Umständen schädigt das Virus nicht nur die Atemorgane, sondern auch die Blutgefäße und innere Organe. Das Risiko dafür kann durch Impfungen verringert werden. Die Impfsaison hat gerade begonnen. Die angepassten Präparate sind jetzt vorhanden. Bei steigenden Infektionszahlen sollten wieder Maßnahmen zum Schutz Gefährdeter ergriffen werden, wie zum Beispiel das Tragen medizinischer Masken.

Verwendete Quellen:

Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter. Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

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