Gesundes Essen und Sport: Wer diese Ratschläge befolgt, wird nie krank und bleibt immer fit. Was, wenn diese Ratschläge jedoch gar nicht stimmen?

Ein Interview

Peter Nawroth, Mediziner und Autor des Buches "Die Gesundheitsdiktatur: Weshalb uns Medizin und Industrie einen Lebensstil empfehlen, der nicht hält, was er verspricht", über einen Lebensstil, der nicht hält, was er verspricht.

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Low Carb, Paleo, vegan - Gibt es eine spezielle Ernährungsform, die Sie begrüßen?

Peter Nawroth: Nein. Ich habe die ganz feste Überzeugung, dass nach 50 Millionen Jahren Evolution des Verdauungssystems niemandem der gesund ist, der Gang zur Apotheke oder zum Gesundheitsgeschäft nutzen kann. Was genetisch, vom Schicksal, durch Zufall oder durch die sozialen Bedingungen mitgegeben ist, lässt sich nicht verbessern.

Man darf die Menschen nicht permanent durch Zeitungsartikel verwirren, die Zusammenhänge suggerieren. In Studien steht meist im Kleingedruckten, dass die Autoren nicht wissen, ob die Untersuchungen wirklich einen Zusammenhang zwischen Wirkung und Ursache zeigen. Daher kommen die vielen falschen Auffassungen darüber, wie man seine Gesundheit verbessern kann.

Welche Gründe sehen Sie für unser gestörtes Essverhalten?

Der Mensch ist abhängig von seiner sozialen Herkunft, seinen Belastungen und Gefühlen. Daher kommt das unterschiedliche Essverhalten. Es gibt einen guten Grund, warum Menschen zu viel essen. Mit dem Lebensstil, der sie krank macht, lösen viele Menschen Probleme, die für sie größer sind als das Übergewicht.

Deswegen hat jeder erst einmal für sich den richtigen Lebensstil gewählt und es steht mir gar nicht zu, ihm zu sagen "Du machst etwas falsch".

Ich darf als Arzt nur dann einen Rat geben, seinen Lebensstil zu ändern, wenn ich durch eine Interventionsstudie (Vorher-Nachher-Studie, bei der Arzt direkt in das Leben des Patienten eingreift, um Ursache und Wirkung zu beobachten, Anm. d. Red.) Belege habe, dass es etwas nutzt. Wir reden hier jedoch nicht von extrem schädlichen Angewohnheiten wie Rauchen oder Ess-Exzessen.

Meine Argumentation lautet: Alles, was keine Interventionsstudie ist, ist zwar ganz interessant, aber sollte nur als Grundlage für Vermutungen verwendet werden. Beobachtungsstudien haben den Effekt, dass die Leute denken, ich esse einen Apfel oder ich treibe Sport und verhindere so Herzinfarkte. Das ist aber nicht richtig.

Warum sollten Ärzte nur so gezielt eingreifen?

Wenn ich in den Lebensstil eingreife, also sage, er soll anders essen, als er gerne isst, oder er soll sich bewegen, reduziere ich erstmal seine Lebensqualität. Das lässt sich anhand von Untersuchungen feststellen.

Wenn ich jetzt die Lebensqualität reduziere, aber keinen Effekt auf Herzinfarkt, Schlaganfall, Demenz, Depressionen etc. habe, dann ist es in hohem Maße unethisch. Wenn Sie einen Diabetiker vom Typ 2 auf die Behandlung einstellen, sinkt die Lebensqualität um 30 Prozent. Es gibt Studien, die zeigen, dass so das Leben nur um 106 Tage verlängert wird.

Was für eine Rolle spielt der Gesundheits- und Jugendwahn unserer Gesellschaft?

Also erstens ist dieser Jugendwahn nachgewiesenermaßen alles andere als gesund. Zweitens: Mit diesem Jugend- und Gesundheitswahn machen wir viele Menschen krank oder eingebildet krank. Ich habe genug Patienten, die mehr unter den äußeren Vorschriften leiden als unter einer echten Störung ihres Körpers. Sie haben permanent ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht perfekt essen oder Sport treiben.

Eine Krankheit hat man zur Zeit der Assyrer als Gottes Strafe angesehen. Davon sollten wir eigentlich weg sein - aber heute ist es wieder so.

Sie haben Ihr Buch "Die Gesundheitsdiktatur" genannt. Ist der Begriff nicht ein bisschen hart?

An manchen Punkten ist unser System eine Diktatur, allein schon eine Meinungsdiktatur. Wenn es keinen Nachweis des Nutzens gibt oder wenn ich zum Beispiel nur den Nutzwert bei Blutwerten, aber nicht bei einer Erkrankung nachweisen kann, dann ist es eine Diktatur der Laborwerte und das finde ich in hohem Maße unmoralisch.

Wir dürfen die Leute nicht bevormunden, sondern müssen uns überlegen, wie sie sich in unserer Gesellschaft wohler fühlen.

Sie sagen, dass es am besten wäre, wenn Menschen sich selbst über Studien informieren. Geht das überhaupt ohne medizinisches Vorwissen?

Ich halte es für einen Skandal, dass in Deutschland Forschungen vom Staat finanziell gestützt werden, aber Ergebnisse Privatbesitz der Verlage sind. Dadurch haben Patienten oftmals keinen Zugang zu erklärenden Abbildungen.

Natürlich brauchen die Menschen dann Leute wie mich, die gut ausgebildet sind, um das zu verstehen. Es ist die Aufgabe von uns Professoren an der Universität, dass wir die Studie aus Patientensicht erklären und nicht Bücher mit ganz viel Text und tollen Überschriften schreiben, ohne die Daten aus Studien dem Leser vorzulegen und zu erklären.

In meinem Buch sind alle wichtigen Studien bis 2015 aufgeführt. Zur Erklärung habe ich die Hilfe meiner 88-jährigen Mutter in Anspruch genommen und die Texte so lange überarbeitet, bis sie sagte, sie würde sie verstehen. So kann ich die Menschen auf meinen Wissensstand holen.

Und wenn Patienten dann diese Studien lesen und sich meine Meinung dazu anhören, können sie im Anschluss sagen, ob sie mir zustimmen oder nicht.

Würden Sie sagen, dass der Drang zur Vereinfachung in dieses Thema mit reinspielt?

Es ist ein gewisser Zeitgeist. Der Mechanismus ist genau der gleiche wie im Mittelalter beim Ablasshandel. Ich weiß, dass ich irgendwann alt und krank werde, ich habe Angst vor meiner Zukunft. Während man früher Ablasshandel betrieb, zahlt man heute Geld und geht ins Fitnessstudio, lebt vegan. Das sind ganz ähnliche Mechanismen, die sehr menschlich sind, aber mit denen ein großes Geschäft gemacht wird.

Denken Sie, dass die "Gesundheitsdiktatur" dazu geführt hat, dass der Trend zur Überwachung des eigenen Körpers geht?

Ich glaube, dass dieser Trend das Zeichen einer riesigen Verunsicherung ist. Angstneurosen sind eine klare Folge davon. Sie sind permanent für sich verantwortlich. Wenn Sie dann einen Schnupfen kriegen, haben Sie zu wenig Vitamin C genommen oder zu selten kalt geduscht. Sie merken aber auch immer, schon allein im Rahmen des normalen Alterungsprozesses, dass Sie dieser Verantwortung nicht gerecht werden. Das ist ein schrecklicher Zustand.

Es gibt einen Korridor der Selbstverantwortung, aber der ist nicht so groß wie uns vorgegaukelt wird. Wir übernehmen uns permanent. Dieses Gefühl zu versagen macht krank. Ich finde es sehr brutal, Menschen dieses Gefühl zuzumuten.

Welche Verbesserungsvorschläge haben Sie für die Gesellschaft und die Medizin?

Erstens: Die Medizin muss sich zu ihrer Beschränktheit bekennen. Ich kann nie den ganzen Menschen erkennen und ich kann anderen Menschen nur das zumuten, was ich in einer Interventionsstudie schon bewiesen habe.

Zweitens: Auch andere Disziplinen sollten zu Rate gezogen werden. Also Philosophie, Theologie, Juristen. Es gibt ganz viele Aspekte, die von uns Medizinern nicht komplett genug gesehen werden können.

Drittens: Für den Patienten heißt das, genug methodisches Wissen aufzunehmen, um seinem Arzt wichtige Fragen stellen zu können.

Viertens: Die Pharmaindustrie und die Forschung sollten nicht nur die Zahlen und Daten liefern, die für die Zulassung eines Präparates notwendig sind, sondern auch die Daten aus den vorliegenden Therapie-Studien der Öffentlichkeit vorlegen, die zeigen, wem die Therapie nichts nutzte. Außerdem müssen wir wissen, nicht nur um wie viel Prozent das Risiko einer Erkrankung reduziert wird, sondern vor allem, um wie viele Monate oder Jahre die Erkrankung nach hinten verschoben wird.

Peter Nawroth ist Direktor der Inneren Medizin und klinischen Chemie des Universitätsklinikum Heidelberg.
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