- Das Land ist geschlaucht - inzwischen fühlen sich viele Menschen "mütend".
- Psychotherapeuten schlagen Alarm: Der derzeitige Zustand führe auch zu mehr Aggression.
Müde und wütend, daraus hat sich in der derzeitigen dritten Corona-Welle inzwischen die Wortschöpfung "mütend" ergeben, mit der viele Menschen in den sozialen Medien ihren Seelenzustand beschreiben. Viele sind geschlaucht, bei immer mehr Menschen ist die Lage ernst.
Deutschlands Psychotherapeutinnen und -therapeuten fordern von Bund, Ländern und Kommunen einen stärkeren Schutz der Menschen vor psychischen Belastungen durch die Corona-Pandemie.
"Neben Ängsten und Depressionen nehmen auch Anspannung und Aggression zu, oft zeigen sie sich, oft werden sie verdrängt", erklärt der Präsident der Psychotherapeutenkammer, Dietrich Munz. "Wenn nun aber der Lockdown trotzdem verlängert und verschärft werden muss, wäre es wichtig, dass nicht nur wirtschaftliche Entschädigung fließt."
Munz: "Selbstheilungskräfte bei vielen erschöpft"
Dass sich die Krise durch die dritte Welle momentan immer weiter zuspitzt, ist nach Ansicht von Munz Folge von Ignoranz gegenüber steigenden Infektionszahlen früher im Jahr. Dass die dritte Welle kommen würde, sei früh erkennbar gewesen. "Wir haben als Menschen die Tendenz, kleinere Warnsignale zu ignorieren, um das Lustvolle machen zu können. Das hat sich gerächt."
Die Perspektive eines Impfangebots für alle und eines Endes der Einschränkungen sei für die seelische Widerstandsfähigkeit zentral. "Wir brauchen ein erreichbares Ziel", sagte Munz. Die dritte Welle mit der britischen Mutante und einem schärferen Lockdown schiebe sich aber wie ein großer Schatten vor die Perspektive. "Die Selbstheilungskräfte scheinen bei vielen allmählich erschöpft zu sein."
Laut des im März veröffentlichten "Deutschland Barometer Depression" empfanden fast drei Viertel (71 Prozent) der Bundesbürger die Situation im zweiten Lockdown als bedrückend.
Angst und Stress führen zu Aggressivität
Andauernder Lockdown begünstigt nach Ansicht des Kammerpräsidenten aggressiveres Verhalten - doch man könne etwas dagegen machen. "Stress bringt immer eine Zunahme von Aggressionspotenzial mit sich."
Unkontrollierbare Angst bedeute Stress. "Angst bewirkt innere Aktivierung für unsere zwei typischen Reaktionen: Fliehen oder Dagegenhalten", sagt der Psychologe und Therapeut. Aktiv zu werden sei kaum möglich - in der Pandemie würden die Menschen zur Passivität verurteilt.
"Deshalb führt die Aktivierung durch Angst bei vielen zur Aggressivität - gegenüber Mitmenschen, bei manchen auch gegenüber der Politik oder sogar der Wissenschaft, die uns das vermeintlich alles eingebrockt hat", sagte er.
Laut "Depressions-Barometer" halten 46 Prozent der Bundesbürger Mitmenschen für rücksichtsloser als im Lockdown Anfang 2020. Munz betont, Stress und Aggression könnten durch Bewegung abgebaut werden. "Die Menschen sollten im Lockdown Sport machen, zügig gehen, walken, joggen, Rad fahren oder auch Fitness mit digitalen Angeboten – wie es ihnen am ehesten liegt."
Kinder und Jugendliche besonders betroffen
Vor allem viele Kinder und Jugendliche litten unter dem Lockdown. Sie müssten für ihre Entwicklung eigentlich Alltag mit Gleichaltrigen teilen können. Logopädinnen und Logopäden berichteten bereits von vermehrten Störungen bei der Sprachentwicklung. "Wenn Kindergärten und Schulen erstmal nicht in Präsenz weitermachen können, muss mehr gegen entstandene Entwicklungsdefizite getan werden." Kinder aus sozial benachteiligten Familien seien stärker betroffen.
"Bei den Minderjährigen ist der erste Schritt, die Kinder zu identifizieren, die aktuell und vor allem auch nach Abklingen der Pandemie Unterstützung brauchen", sagte Munz. "Lehrkräfte wissen nach monatelangem Homeschooling oft genau, welche Schülerinnen und Schüler abdriften."
Für diese sollten zusätzliche Betreuungs- und Unterstützungsmöglichkeiten durch Schulpsychologen geschaffen werden. "Eine Idee wäre, dass Länder und Kommunen den Einsatz von Studierenden auch noch vor einem Abschluss möglich machen. Sie könnten etwa eine Patenschaft für ein Kind übernehmen." Gerade bei wärmeren Temperaturen wären verstärkt Angebote im Freien denkbar.
Singles oft einsam, Familien eingeengt
Einsamkeit - ein verstärktes Problem sei dies jetzt bei Singles. Viele Menschen, die akut belastet seien, entwickelten dadurch aber noch keine psychische Erkrankung. "Ihnen wäre mit niedrigschwelligen Hilfsangebote gedient", meint Munz. "Doch gerade diese fallen häufig weg, denn das sind meist Gruppenangebote, Kontaktvermittlung, Treffpunkte, gemeinsame Aktivitäten."
Aber nicht nur Rückzug und Alleinsein sind ein Problem. "Bei vielen Paaren und Familien erzeugt die Enge oft Stress", sagte Munz. "Unter normalen Umständen pendeln wir zwischen Nähe und Distanz." Es gebe viele Hinweise über mehr Gewalt und sexuelle Übergriffe in Familien schon im ersten Lockdown.
Wenn alle immer zuhause sind, gebe es für Betroffene wenig unkontrollierte Zeiten, etwa um ein Frauenhaus anzurufen. "Stärkere Aufklärung zur Vermeidung von psychischer Anspannung und aggressiven Auseinandersetzungen wäre wichtig."
Frühzeitig um Beratungsplatz kümmern
"Wenn die Pandemie abklingt, dürften die psychischen Erkrankungen spürbar zunehmen", sagte Munz. Schon heute stellten mehr Patienten Anfragen an Therapeuten als noch vor einem Jahr.
Sie könnten über die Terminhotline der Ärzte zwar meist problemlos eine Sprechstunde bei einem Therapeuten ausmachen. Doch werde Behandlungsbedarf festgestellt, warteten rund 40 Prozent der Patientinnen und Patienten mindestens drei bis neun Monate auf den Beginn einer Behandlung.
"Wir haben einfach zu wenig Behandlungsplätze", sagte Munz. 2018 habe ein offizielles Gutachten eine Lücke von 2400 Stellen festgestellt, 800 mehr seien es geworden. Um das Angebot an Psychotherapie rasch zu vergrößern, sollten auch Privatpraxen bis Ende des Jahres Menschen mit Beschwerden auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen versorgen können. Langfristig müssten mehr Praxen zugelassen werden. (dpa/af)
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