- Die Wissenschaft ist sich uneins, ob es Long COVID bei Kindern überhaupt gibt. Auch Studien liefern widersprüchliche Ergebnisse, was die Häufigkeit angeht.
- Das liegt unter anderem daran, dass es keine festgelegte Definition von Long COVID gibt.
- Ein anderes Problem ist die schlechte Datenlage zu an Corona erkrankten Kindern in Deutschland.
- Der Jenaer Kinderarzt Daniel Vilser startet daher eine eigene Studie: "Long COVID gibt es auch bei Kindern. Die Beweise dafür kann man nicht wegdiskutieren."
Kinder bringen eine Corona-Infektion in der Regel unbemerkt bis unproblematisch hinter sich. Immer wieder wird jedoch von Kindern berichtet, die auch noch Wochen nach der Ansteckung mit gesundheitlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Sie sind müde und schlapp, haben mitunter Atemnot, Brustschmerzen und können sich schlecht konzentrieren. Das Thema Long COVID ist hoch emotional. Manche Eltern schalten auf cool, andere sind extrem verängstigt. Was nicht zuletzt daran liegt, dass das Phänomen schwer zu greifen ist und Zahlen zur Häufigkeit in der wissenschaftlichen Literatur bisher sehr schwanken.
Eine Extremposition nimmt der Münchner Kinderkardiologe Niklaus Haas ein. In einem Interview äußerte er Zweifel daran, dass es Long COVID bei Kindern überhaupt gibt. Die Gesellschaft sei in dieser Pandemie hysterisch geworden. Long COVID werde an sehr unspezifischen Beschwerden wie Müdigkeit und Schlafstörungen definiert. Dass ein Kind oder Jugendlicher bei so viel Medienaufmerksamkeit nicht schlafen könne oder andere Symptome aus dem Sammelsurium von Long COVID zeige, sei das Normalste auf der Welt. "Das hat aber nichts mit einer SARS-CoV-2-Infektion zu tun", sagte Haas, der als Direktor der Kinderkardiologie und Pädiatrische Intensivmedizin des Klinikums der LMU Großhadern vorsteht.
Die Studien zu Long COVID aus Deutschland mit echter Kontrollgruppe zeigten, dass die Beschwerden bei beiden Gruppen – mit und ohne Infektion – gleich häufig auftreten würden. "Nach allem, was ich weiß, gibt es Long COVID bei Kindern nicht, so wie das bei Erwachsenen beschrieben ist", erklärt Haas.
Widersprüchliche Studienergebnisse zur Häufigkeit
Eine der Studien aus Deutschland, auf die sich Haas bezieht, ist wahrscheinlich diese: Die Kinderärztin Judith Blankenburg und ein Team am Universitätsklinikum Dresden hatte im März und April 2021 rund 1.500 Schülerinnen und Schüler (Durchschnittsalter 15 Jahre) in Sachsen nach Symptomen wie Kopf- oder Bauchschmerzen, Erschöpfung und Konzentrationsverlust befragt. Knapp 90 Prozent dieser Jugendlichen waren in den vorhergehenden Monaten negativ, gut zehn Prozent positiv auf das Coronavirus getestet worden.
Nun tauchte in den letzten sieben Tagen vor der Befragung jedes der Symptome bei mindestens einem Drittel der SchülerInnen auf, egal, ob sie zuvor mit SARS-CoV-2 infiziert waren oder nicht. Da es keinen Unterschied zwischen den beiden Gruppen gab, sei Long COVID vermutlich viel seltener als ursprünglich gedacht, der Einfluss der Pandemie an sich auf das Wohlbefinden der Jugendlichen dagegen groß, so die Schlussfolgerung der Fachleute aus Dresden.
Diese Aussage steht in völligem Gegensatz zu einer aktuellen Zusammenfassung verschiedener Studien, die sich mit den Folgen einer Corona-Infektion bei insgesamt über 80.000 Kindern und Jugendlichen befassen. Danach berichten ein Viertel aller Befragten über Symptome, die 4 bis 12 Wochen nach dem Infekt anhalten. Was stimmt denn jetzt: Long COVID gibt es gar nicht oder jedes vierte Kind, jeder vierte Jugendliche muss mit Spätfolgen einer Corona-Infektion rechnen?
"Long COVID gibt es auch bei Kindern. Die Beweise dafür kann man nicht wegdiskutieren", sagt Daniel Vilser, Kinderarzt vom Uniklinikum Jena. Dass das Problem jedoch 25 Prozent betrifft, kann er sich nicht vorstellen. Vilser geht davon aus, dass Long COVID selten vorkommt und kein einheitliches Krankheitsbild ist, sondern es unter den Patienten und Patientinnen Cluster gibt, die unterschiedliche Ursachen haben und sich in vielen verschiedenen Symptomen äußern.
Warum ist Long COVID besonders bei Kindern so schwer zu greifen? Warum gehen die Zahlen über die Häufigkeit so weit auseinander? Dafür gibt dafür mindestens drei Gründe.
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Die Definition: Was ist Long COVID überhaupt?
Um Studienergebnisse miteinander vergleichen zu können, muss sicher sein, wovon man überhaupt redet. Was ist Long COVID? Im Oktober 2021 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Definition vorgeschlagen: Danach tritt Long COVID innerhalb von drei Monaten nach Beginn der COVID-19-Erkrankung mit Symptomen auf, die mindestens zwei Monate anhalten und nicht durch eine andere Diagnose erklärt werden können.
Britische Fachleute haben im Februar 2022 diese Definition für Long COVID bei Kindern vorgeschlagen: Long COVID sei eine Erkrankung, bei dem ein Kind oder ein(e) Jugendliche Symptome hat, von dem mindestens eines körperlich ist und die Symptome sich seit oder nach der Diagnose von COVID-19 entwickelt haben. Long COVID beeinflusse das körperliche, seelische und soziale Wohlbefinden, habe Auswirkungen auf mindestens einen Aspekt des täglichen Lebens und halte bis mindestens 12 Wochen nach dem ursprünglichen positiven Test an.
Nicht allen Untersuchungen liegen exakt dieselben Definitionen zugrunde, das schafft Verwirrung. Außerdem gibt es noch eine andere Schwierigkeit: "Long COVID wird eine vage Beschreibung bleiben, solange uns harte Diagnosekriterien fehlen", sagt Daniel Vilser.
Ein paar Biomarker wie zum Beispiel Auto-Antikörper oder bestimmte Entzündungsstoffe, die im Zusammenhang mit Long COVID im Blut von Betroffenen gefunden werden, gebe es zwar schon. Doch eine individuelle Zuschreibung sei (noch) nicht möglich, das heißt: Wenn man diesen Antikörper oder jenen Entzündungsstoff in einer Probe nicht finde, bedeute das nicht, dass das Kind kein Long COVID hat. Und anders herum, wenn man es findet, muss nicht unbedingt Long COVID vorliegen.
Ausgerechnet in Deutschland mangelt es an guten Daten
"Die Datenlage rund um COVID-19 ist hierzulande schlecht. Alle sinnvollen Zahlen, die es zurzeit gibt, kommen aus anderen Ländern", sagt Vilser. Ein wenig sehnsüchtig blickt er dabei zum Beispiel nach Dänemark. Dort würde jedes Kind mit einer Corona-Infektion in einem Register erfasst. Natürlich lässt sich dann viel besser und vor allem in großem Maßstab nachverfolgen, wie es diesen Kindern mit der Zeit ergeht.
Luise Borch und ein Team aus dänischen Kinderärzten, Statistikerinnen und Mikrobiologen haben daher die Eltern von knapp 38.000 Kindern und Jugendlichen zwischen 0 und 17 Jahren mit einer Corona-Infektion anschreiben können. Im Vergleich zu einer etwa gleich großen Kontrollgruppe hatten von den positiv getesteten Kinder 0,8 Prozent mehr Symptome (Erschöpfung, Verlust von Geruch/Geschmack, Schwindel, Brustschmerzen, Muskelschwäche, Probleme bei der Atmung und andere), die mehr als vier Wochen nach dem positiven Test andauerten. Nach ein bis fünf Monaten verschwanden auch diese Symptome bei den meisten Kindern wieder. Die dänischen Fachleute schreiben, dass die beobachteten Long-COVID-Symptome nicht mit psychologischen Folgen sozialer Restriktionen erklärt werden können.
Danilo Buonsenso vom Gemelli-Universitätsspital in Rom war einer der ersten Ärzte, der sich mit der Long-COVID-Problematik bei Kindern beschäftigt hat. "Die meisten Kinder, die ich gesehen habe, waren vor COVID-19 völlig gesund, haben Sport und andere Freizeitaktivitäten gemacht", berichtet Buonsenso gegenüber der BBC. Nach der Infektion seien sie nicht in der Lage gewesen, in die normale Schulroutine zurückzukehren, weil sie unter Erschöpfung, Kurzatmigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten litten. Seiner Erfahrung nach erholten sich zwei Drittel bis drei Viertel der Long-COVID-Kinder nach spätestens drei Monaten wieder. Es gebe aber eine Untergruppe von 10 bis 20 Prozent, die nicht spontan wieder gesund würden. Bisher wisse man nicht, wie lange diese Kinder noch unter den Folgen leiden werden.
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Long COVID ist selten
In Anlehnung an solide Studiendaten aus Dänemark, Großbritannien und Norwegen schätzt Daniel Vilser die Häufigkeit von Long COVID bei Kindern nach einer Ansteckung mit dem Coronavirus auf 0,5 bis 3 Prozent mit Tendenz eher an der unteren Grenze. Bei einer kleinen, wie der eingangs erwähnten Untersuchung aus Dresden mit nur 1.500 Teilnehmenden könne man den Long-COVID-Effekt angesichts der geringen Fallzahl gar nicht erkennen.
Wenn bei einer solchen Untersuchung etwa pauschal nach Kopfschmerzen gefragt würde, an denen ohnehin 30 bis 40 von 100 Kindern und Jugendlichen immer mal wieder litten, fiele das 31. statt 30. von 100 Kindern statistisch gesehen überhaupt nicht auf. "Dass man den Effekt beziehungsweise die Folge der Corona-Infektion in dieser Studie nicht sieht, heißt aber nicht, dass es das betroffene Kind kein Long-COVID-Fall ist, das behaupten die Autoren übrigens auch gar nicht", sagt Vilser.
Vilser selbst hat in Kooperation mit der Universitätsmedizin Magdeburg und der TU Ilmenau jetzt eine Studie initiiert, die Anfang Mai 2022 an den Start gehen soll. Ziel von LongCOCid ist es, einen Überblick darüber zu bekommen, welche Auswirkungen eine Infektion auf die Lebensqualität der Kindern und Familien hat.
Außerdem will das Team versuchen, bestimmte Biomarker im Blut (etwa Antikörper, die sich gegen körpereigenes Gewebe richten) mit dem Krankheitsbild Long COVID zu verknüpfen sowie den Zusammenhang zwischen der Virusinfektion und der Gefäßfunktion zu untersuchen. Das Coronavirus beeinflusst die Funktion der Gefäße und damit auch die Blutgerinnung und den Blutfluss. Durch einen Blick auf den Augenhintergrund und die dort verlaufenden Gefäße wollen sich die Forscherinnen und Forscher einen Eindruck vom Zustand kleiner Gefäße im Körper der Kinder verschaffen, die von Long COVID betroffen sind. Langfristig sollen die Erkenntnisse die Entwicklung adäquater Therapien und Reha-Maßnahmen unterstützen.
Viele offene Fragen
Nicht nur auf die Frage der Häufigkeit von Long COVID gibt es bisher noch keine klare Antwort. Viele andere Dinge sind noch unverstanden. Welche Risikofaktoren gibt es? Sind manche Kinder anfälliger als andere? Was sind die molekularen, die immunologischen oder auch die psychologischen Ursachen für Long COVID? Welche Schutzwirkung hat die Impfung auch für die Vermeidung der Spätfolgen einer Infektion? Studien bei Erwachsenen zeigen hier ein geringeres Long-COVID-Risiko bei Geimpften als bei Ungeimpften. Wichtig ist natürlich auch die Frage: Wie sieht eine optimale Behandlung von Long COVID aus?
Die Omikron-Welle hat in den USA und GB zwar vermehrt zu Krankenhauseinweisungen von Kindern geführt, trotzdem scheint die Infektion auch bei Kindern milder zu verlaufen als bei den vorherigen Varianten. Ob es auch mehr Long COVID geben wird, ist noch völlig unklar. "Dafür ist es noch zu früh", erklärt Vilser.
Wie Eltern ihre Kinder jetzt am besten schützen können? "Es macht auf keinen Fall Sinn, sein Kind zu Hause einzusperren und wegen der hohen Infektionszahlen etwa nicht in die Schule zu schicken", sagt Vilser. Die Maske sei in der Schule und im öffentlichen Leben nach wie vor sinnvoll. Denn schließlich entscheide ja immer auch die Virusmenge, die jemand abbekommt, wie stark die Symptome nach einer Infektion und womöglich auch das Risiko für Long COVID ausfallen werden.
Verwendete Quellen:
- infosperber.ch: "Impfen von Kindern ist medizinisch nicht zu rechtfertigen"
- medRxiv: Mental health of Adolescents in the Pandemic: Long COVID19 or Long-Pandemic Syndrome?
- medRxiv: Long COVID in Children and Adolescents: A Systematic Review and Meta-analyses
- euronews.com: 1 in 4 symptomatic children get long COVID, a new study finds. What are the symptoms?
- UK Research and Innovation: New definition for long COVID in children
- National Library of Medicine: Long COVID symptoms and duration in SARS-CoV-2 positive children — a nationwide cohort study
- BBC.com: How children are being affected by long COVID
- Ärzteblatt.de: Erste Ergebnisse zu Spätfolgen bei Kindern mit COVID-19 aus Deutschland
- Frontiers in Medicine: Retinal Microcirculation as a Correlate of a Systemic Capillary Impairment After Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2 Infection
© RiffReporter
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