Deutschland hat die erste Corona-Welle gut überstanden. Ärzte und Krankenpfleger standen dabei an vorderster Front – und Tausende haben sich dabei infiziert. Viele klagen nun über zu wenig Schutzausrüstung und fordern mehr Tests.

Mehr aktuelle Informationen zum Coronavirus finden Sie hier

Sie waren die Orte, an dem die erste Welle der Coronavirus-Pandemie nicht nur bekämpft wurde, sondern weltweit mit großer Wucht aufprallte: Krankenhäuser, Uni-Kliniken und Arztpraxen. Anders als in vielen anderen europäischen Ländern blieb Deutschland glücklicherweise eine Überlastung seines Gesundheitssystems erspart.

Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Tausende Ärzte und Krankenpfleger haben sich in der Bundesrepublik seit Beginn der Coronakrise mit dem Virus angesteckt. Jeder vierzehnte Infizierte hierzulande arbeitet in einem Krankenhaus, in ärztlichen Praxen, Dialyseeinrichtungen und bei Rettungsdiensten.

Laut den aktuellsten Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom Samstag gibt es in diesen Einrichtungen mittlerweile 12.813 bestätigte Corona-Fälle. 584 Mitarbeiter mussten selbst in einer Klinik behandelt werden, 20 der Erkrankten starben.

Unsere Redaktion hat Mediziner und Pfleger zur Situation befragt, sie um eine Einschätzung gebeten sowie Untersuchungen ausgewertet.

Die Recherchen zeigen: Die meisten fühlen sich ausreichend geschützt. Allerdings beklagen viele fehlende Schutzausrüstung in ihren Kliniken. Sie mahnen zudem zu regelmäßigen Corona-Tests sowohl beim Personal als auch bei den Patienten.

Lesen Sie auch: Alle Entwicklungen rund um das Coronavirus in unserem Live-Blog

Anteil an infizierten medizinischen Personal steigt

"Bei Grippewellen gibt es wegen vorhandener Impfstoffe natürlich weniger Infektionen", erklärt Susanne Johna. Sie ist Oberärztin für Krankenhaushygiene im St. Josefs-Hospital in Rüdesheim und Vorsitzende des Marburger Bundes, der mehr als zwei Drittel aller Krankenhausärzte in Deutschland vertritt. Für Johna ist die Zahl von Tausenden Infizierten im medizinischem Bereich "höchst relevant – auch, weil der prozentuale Anteil der medizinischen Fälle ansteigt".

Die Infiziertenquote bei Ärzten und Krankenpflegern in Deutschland ist tatsächlich immer größer geworden. Sie betrug am 9. April, als das RKI erstmals Zahlen dazu veröffentlichte, noch 4,3 Prozent, am Samstag hingegen schon 7,1 Prozent.

Während sich im gleichen Zeitraum die Gesamtzahl aller bestätigten Corona-Fälle in Deutschland nicht einmal verdoppelt hat, hat sich die Summe des infizierten medizinischen Personals fast verdreifacht.

Der Weg des Coronavirus

Der Weg des Virus: Wie ein Stammbaum die Evolution des Virus sichtbar macht

Wissenschaftler verwenden die genetischen Sequenzen des Virus, um den Stammbaum des Virus zu erstellen. Aus den gesammelten Informationen konnte so ein globaler Stammbaum des Virus konstruiert werden.

Das ist ein alarmierendes Signal, das aus Johnas Sicht nicht allein mit mehr Tests erklärt werden kann. "Es hat Ausbrüche in Krankenhäusern gegeben, bei denen ein unentdeckter Patient ausgereicht hat", unterstreicht die Internistin.

Gerade jene Fälle, die keine typischen Symptome zeigen oder bei denen diese durch andere komplett überdeckt werden, seien gefährlich.

Johna fordert deshalb, dass alle Patienten die neu ins Krankenhaus aufgenommen und viel mehr medizinisches Personal getestet werden. "Nur so wissen wir, wie viele tatsächlich betroffen sind." Sie betont: "Wir sollten die vorhandenen SARS-CoV-2 Testkapazitäten in Deutschland nutzen."

Tatsächlich sind die deutschen Labore bei weitem nicht ausgelastet: In der vergangenen Woche haben sie laut RKI bundesweit insgesamt rund 345.000 Corona-Tests analysiert. Die möglichen Kapazitäten pro Woche lägen aber aktuell bei etwas mehr als einer Million Tests.

Bisher wird in Gesundheitseinrichtungen nur punktuell auf das Virus getestet, wie unsere Recherchen zeigen. Auch dem RKI ist laut "Süddeutscher Zeitung" nicht bekannt, wie umfassend in den Einrichtungen getestet werde.

Ein am 23. Mai in Kraft getretenes Gesetz von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sieht eine Ausdehnung von Tests vor. Sie sollen auch unabhängig von Symptomen auf Kassenkosten ermöglicht werden. Doch geregelt ist das noch nicht.

Eine entsprechende Rechtsverordnung werde derzeit im Bundesgesundheitsministerium vorbereitet und "die Kriterien für die Erstattung der Tests durch die Krankenkassen konkretisiert", wie die Behörden auf Nachfrage unserer Redaktion mitteilte.

Mehr Tests, mehr positive Befunde?

"Ich finde es schade, dass das Personal so unregelmäßig abgestrichen wird, nämlich nur bei Verdacht oder wenn man eine Kontaktperson war", sagt eine Krankenschwester aus Halberstadt in Sachsen-Anhalt.

Sie sprach offen über die Situation in ihrer Klinik, bat aber wie alle anderen kontaktierten Ärzte und Pfleger um Anonymität. Sie würde es gutheißen, wenn das Personal prophylaktisch alle zwei Wochen getestet werden würde.

Einige Krankenhäuser sind da schon weiter. So plant etwa das Münchner LMU Klinikum für seine Mitarbeiter die Einführung von Intervall-Tests, wie eine Kliniksprecherin auf Anfrage unserer Redaktion bestätigte.

Ein Internist aus einem Mannheimer Krankenhaus hat große Unterschiede im Vorgehen ausgemacht: "Manche Krankenhäuser testen ihre Mitarbeiter vorsorglich, auch wenn diese keine Beschwerden haben, andere wiederum nur bei Symptomen."

Er vermutet "mancherorts Hemmungen, da umfassende Tests einige positive Zufallsbefunde zutage fördern könnten". Die Folge: Dringend benötigtes medizinisches Personal müsste in häusliche Quarantäne und würde für die Krankenversorgung ausfallen.

Zwei Studien haben in der Tat schon untersucht, wie weit das Virus in Kliniken zirkuliert. Die Ergebnisse des umfassenden Corona-Screenings unter den Mitarbeitern der Berliner Charité und des Universitätsklinikums Münster: In der Hauptstadtklinik hatten sich nur 0,5 Prozent des Personals infiziert, in dem nordrhein-westfälischen Krankenhaus hingegen 5,4 Prozent.

"Freestyle-Diagnostik" im Krankenhaus

Dem Mannheimer Internisten zufolge werden Patienten in den meisten Krankenhäusern "relativ gewissenhaft" getestet. Ein Münchner Anästhesist bestätigt diese Einschätzung: "In Bezug auf Patienten wird meiner Ansicht nach ausreichend getestet."

Er ergänzt: "Auf unserer Intensivstation, die sich in Einzelisolation nur mit Corona-Fällen befasst, ist mir kein erhöhter Krankenstand und auch keine flächendeckende Ansteckung bekannt."

Kritik über aber ein Krankenhausarzt aus Fulda. "Ich habe das Gefühl, dass wir zu wenig getestet haben", sagt er. "Wir haben nur hoch symptomatische Patienten getestet, weil wir nicht die Isolationsmöglichkeiten hatten. Ich bin mir nicht sicher, ob der ein oder andere nicht doch hätte getestet werden sollen." Er habe den Eindruck, "dass wir im Krankenhaus Freestyle-Diagnostik machen".

Der Internist kritisiert auch, dass die Schutzmaßnahmen gerade am Anfang der Pandemie unzureichend waren. "Wir sollten die Maske mehrfach nutzen. Das hat uns unsicher gemacht", erzählt er. Schutzbrillen sollten sich die Mitarbeiter privat organisieren. Weil die Schutzausrüstung knapp gewesen sei, hätten viele Mitarbeiter auf den normalen Stationen ganz ohne sie arbeiten müssen.

Mittlerweile sei zwar die Versorgung besser. Dennoch sagt der Arzt – als einziger der Befragten –, er habe als Angestellter im Gesundheitswesen Angst, das Virus mit nach Hause zu schleppen und so Freunde und Bekannte zu gefährden.

"FFP3-Masken sind derzeit praktisch nicht lieferbar"

Dass die Schilderungen aus Fulda kein Einzelfall sind, zeigt eine Online-Umfrage des Marburger Bundes unter seinen Mitgliedern. 38 Prozent der Ärzte hätten demnach angegeben, adäquate Schutzkleidung nicht in ausreichender Anzahl zur Verfügung zu haben.

"Unsere Umfrage hat gezeigt, dass nicht nur Atemschutzmasken fehlen, sondern auch Schutzkittel oder Desinfektionsmittel", erläutert die Vorsitzende des Marburger Bundes, Johna. "FFP3-Masken – die für bestimmte Tätigkeiten sehr nah am Patienten gebraucht werden – sind derzeit praktisch nicht lieferbar."

Auch sie bestätigt, dass das Schutzmaterial viel länger als früher eingesetzt werde. "FFP2-Masken und chirurgische Mund-Nasenschutz sind eigentlich Einmalmaterial. Nun werden diese in der Regel eine ganze Schicht lang verwendet. Durch die Mehrfachnutzung besteht gerade beim Ab- und Aufsetzen ein höheres Kontaminationsrisiko für das Personal."

Dazu würden Sicherheitsmängel kommen, die bei einigen stichprobenartigen Untersuchungen des aus China beschafften Schutzmaterials aufgefallen seien.

Patienten die Angst vor Ansteckung nehmen

Trotz aller Kritik und Mängel sagen alle kontaktierten Mediziner: Es wurde und wird in den Krankenhäusern alles dafür getan, um Patienten vor Infektionen zu schützen.

Verstärkte Sicherheitsmaßnahmen, darunter insbesondere mehr Tests sowohl beim Personal als auch bei Patienten, dienen aus Johnas Sicht schließlich auch dazu, den Patienten mehr Sicherheit zu geben und Ängste zu nehmen.

Nicht zuletzt sei dem Virus aber besser beizukommen als manchen Bakterien. "Auf Oberflächen überlebt es nicht so lange, Bakterien sind hingegen teils tagelang infektiös", erklärt die Krankenhaushygienikerin. Sie betont: "Wenn eine Behandlung nötig ist, gibt es derzeit keinen Grund diese lange hinauszuzögern."

Verwendete Quellen:

  • Robert-Koch-Institut: Tägliche Situationsberichte
  • Süddeutsche Zeitung: "Ich bekomme nur einen Mund-Nasen-Schutz pro Tag"
  • RBB24: "Niedrige Corona-Infektionsquote bei Charité-Personal"
  • Ärzteblatt: "SARS-CoV-2 bei Mitarbeitern einer großen Universitätsklinik"
  • Marburger Bund: "MB-Barometer zur Corona-Krise 2020"
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.